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ESSAY Der Politikverdruss fordert auch den Bundestag heraus. Es ist Zeit für neue Reformen seiner Arbeit

05.08.2013
2023-08-30T12:24:03.7200Z
5 Min

Wie sehen Bilanz und Perspektiven des Parlamentarismus in Deutschland an der Schwelle vom 17. zum 18. Deutschen Bundestag aus? Wenn wir in die Antwort mit einem historischen Vergleich einsteigen, gewinnen wir ein eindeutig positives Bild: Die Honoratioren der Paulskirche wären verblüfft, wie selbstverständlich und gut Parlamentarismus 165 Jahre nach dem ersten Versuch einer nationalen deutschen Demokratie auch auf breitester Ebene funktioniert. Und die Zyniker, Skeptiker und Gegner rund um das Weimarer Nationaltheater wären nicht minder verblüfft, wie stabil Parlamentarismus 94 Jahre nach dem zweiten Versuch gegen Missbrauch und Radikalisierung abgesichert ist.

Zwölf Monate mühte sich die Frankfurter Nationalversammlung 1848 bis 1849 vergeblich um eine parlamentarische Demokratie unter dem Dach der Monarchie. 153 Monate wankte der Reichstag 1920 bis 1933 zwischen wenigen konstruktiven Phasen und immer mehr destruktiven Beiträgen bis zur Katastrophe seiner Verwandlung in ein willfähriges Instrument des nationalsozialistischen Terrorregimes. Seit 768 Monaten aber liefert der Bundestag seit 1949 grundlegende und insgesamt verlässliche Beiträge zum inneren Ausgleich der Gesellschaft und zur Steuerungsfähigkeit der Politik. Er bildete den Ort der wichtigsten Weichenstellungen von der Westorientierung über die Ostpolitik und die Wiedervereinigung hin zur fortschreitenden Verwirklichung der europäischen Idee. Er begleitete die zunehmende Bedeutung des Landes und die wachsenden Erwartungen an die Verantwortung Deutschlands für die Welt, ohne wesentliche Bedingungen wie etwa den Entscheidungsvorbehalt beim Einsatz der "Parlamentsarmee" aufzugeben. Er nahm wichtige gesellschaftliche Veränderungen und Bedürfnisse über den Wandel seiner Zusammensetzung in sich auf. Und mit Hilfe des Verfassungsgerichtes behauptete er die Mitspracheansprüche sowohl seiner eigenen Minderheiten in nationalen Themen als auch nach außen als "Player" im Prozess der europäischen Integration. In Krisenzeiten zeigte sich die Weitsicht der Verfassungskonstruktion mit der zwischen Bundestag und Bundespräsident, Bundesrat und Bundesregierung, Bundespolitik und Bundesverfassungsgericht ausbalancierten Verantwortung.

Kein "Weiter so"

Ist anno 2013 also alles in Butter? Darf die alles in allem überzeugende Bewährung in der Vergangenheit als Freibrief für ein parlamentarisches "Weiter so" nach den Wahlen gelten? Das wäre so, wenn sich die am deutlichsten direkt vom Volk legitimierte Repräsentanz auf eine entsprechende Wahlbeteiligung stützen könnte. Diese Basis wird jedoch brüchig. Der neue Bundestag muss deshalb klären, warum Verdruss, Misstrauen, ja latente Verachtung gegenüber der im Bundestag organisierten Parteiendemokratie zunehmen und was das für seine Arbeit bedeutet. Ein "Weiter so" müsste sich zudem stützen können auf eine zukunftsfeste Praktikabilität der parlamentarischen Vorgänge. Ein Bundestag aber, der regelmäßig knapp hundert und mitunter auch deutlich mehr Debattenbeiträge pro Sitzungswoche nur noch "zu Protokoll" gibt und über Monate laufende Fachdebatten vor der Öffentlichkeit auf wenige Minuten komprimierte Abstimmungsformalia reduziert, und sei es um die vollgestopfte Tagesordnung zu erfüllen, hat die Grenzen wohl längst überschritten: Er funktioniert in Teilen nur noch virtuell.

Ein weiterer Anlass zur Skepsis gegenüber einem "Weiter so" liegt in dem Umstand, dass in den letzten Jahren neue Parteien binnen weniger Monate bereits demoskopisch ermittelte Stimmenpotenziale zwischen 15 und 20 Prozent erreichen. Ein Blick auf deren Hauptanliegen lässt vermuten, dass ein großer Teil der Bevölkerung die Artikulations- und Beteiligungsfunktion des Bundestages als unzureichend wahrnimmt. Jeder Fünfte scheint seine Vorstellung vom Umgang mit Euro oder Internet im Parlament nicht oder zu wenig wiederzufinden.

Die verbreiteten Plattitüden gegenüber "faulen Abgeordneten" mit "Selbstbedienungsmentalität" werden wohl niemals vollständig aus den Stammtischdebatten verschwinden. Wenn der Bundestag aber in der öffentlichen Wahrnehmung jedes Mal in der Defensive verharrt, sobald auf den Titelseiten der Boulevardmedien das Wort "Diäten" auftaucht, spricht das auch nicht für ein "Weiter so".

Um mit Letzterem zu beginnen: Die umfassende Reform der Abgeordnetenentschädigung gehört zu den Aufgaben des neuen Bundestages. Der noch dem alten Bundestag vorgelegte Vorschlag der Schmidt-Jortzig-Kommission dürfte tatsächlich den Vorgaben des Verfassungsgerichtes entsprechen: Jeder Bundestag legt künftig zu Beginn neu fest, dass die Diäten an vergleichbare Besoldungen im öffentlichen Dienst angepasst und mit einer an Preis- und Lohnentwicklung gekoppelten Automatik verbunden werden. Mit einer Akzeptanz beim kritischen Publikum kann der Deutsche Bundestag jedoch wohl nur rechnen, wenn er gleichzeitig eine Entprivilegierung der Abgeordneten in ihrer Altersversorgung vornimmt. Eine neue Diäten-Automatik mit Verbindungen zu den Lohnentwicklungen in weiten Teilen des beruflichen Lebens muss zugleich auch die Vorsorge der Abgeordneten für ihr Alter an die verbreiteten Regelungen in der Gesellschaft aufgreifen. Damit nicht genug, gehören adäquate Nebenverdienstregelungen und Bestechlichkeitsregularien mit in dieses Paket hineingeschnürt. Sonst wird es kein großer Wurf, der in der öffentlichen Debatte bestehen kann.

Damit sind wir auch schon bei den Arbeitsabläufen. Die Taktung der Sitzungswoche ist seit Jahrzehnten professionell eingespielt. Montags die Vorstandsgremien und Landesgruppen, dienstags die Fraktionen, mittwochs die Ausschüsse, donnerstags das Plenum, und freitags mittags geht es zurück in die Wahlkreise. Zusammen mit der Fülle an anderen, in dieses Grundgerüst hineingebauten Terminen sind diese Abläufe inzwischen zu einer Art Betriebssystem des Parlamentarismus geworden, das beim Gedanken an Korrekturen nur die Furcht vor einem vollständigen Systemabsturz hervorruft.

Änderungen nötig

Dabei hat der Bundestag selbst schon eine lange Reihe von großen, mittleren und kleinen Parlamentsreformen hinter sich, die etwa die Debatten flexibler und attraktiver gemacht haben. Ein neuer Anlauf wäre überlegenswert. Wenn die immer arbeitsteiligere Gesellschaft immer mehr Regelungsbedarf in Fachsegmenten braucht und der Bundestag weiterhin den Anspruch erhebt, nicht nur die Gesetzgebung für Insider, sondern auch einen nachvollziehbaren Diskurs darüber zu bieten, dann muss das Parlament auch neuen Raum dafür schaffen, wenn das aktuelle Zeitbudget erkennbar überdehnt ist. Zwei Ansatzpunkte liegen auf der Hand: Tagungsrhythmus und Ausschusskompetenz.

Die strikte Unterteilung in Sitzungswochen und Wahlkreiswochen stammt aus den Reisemöglichkeiten der Nachkriegsjahre. Angesichts von "Sprintern" auf der Schiene und schnellen Sprüngen per Jet zwischen Bundestag und Wahlkreis ist dieses Prinzip in der Praxis längst durchlöchert. Abgeordnete fliegen auch in Sitzungswochen mal kurz zu Landesvorstandssitzungen in die Heimat. Umgekehrt überlassen die Funktionsträger im Parlament auch in Nichtsitzungswochen das Feld nicht mehr alleine der Regierung, sondern zeigen ihrerseits Medien- und Beratungspräsenz in Berlin. Also könnte die Zahl der Debatten deutlich erhöht werden, wenn die Zahl der reinen Wahlkreiswochen sinkt.

Andererseits ließe sich die längst bestehende Unterscheidung von Beratungen ersten und zweiten Ranges (die einen real zum Mit- und Nachhören, die anderen nur virtuell "zu Protokoll") konsequenter handhaben: Wenn Ausschüsse in öffentlicher Sitzung die Fachdebatte über Spezialthemen an Stelle des Plenums zu Ende führen und jede Fraktion das Recht hat, auf Antrag jede Angelegenheit doch noch ins Plenum "ziehen" zu können, käme das Parlament über die Ausschussberatungen der parlamentarischen Befassung im Einzelnen mit größerer Ernsthaftigkeit nach, als dies jetzt mit der inflationären "Zu-Protokoll"-Beratung der Fall ist.

Teilhabe im Internet

Zu den künftigen Herausforderungen für den Deutschen Bundestag gehört nicht zuletzt die bessere Teilhabemöglichkeit des Bürgers per Internet. Das Parlament investiert zu Recht in eine benutzerfreundliche elektronische Präsenz. In sozialen Netzwerken und auf den Homepages von Medien und Parteien zeigt sich indes, dass hier noch viel Raum nach oben ist. Bedarf und Nachfrage sind da, wie die lebhafte Beteiligung von Hunderttausenden von Bürgern am elektronischen Leben des Petitionsausschusses zeigt. In Zukunft bietet das Internet indes noch sehr viel mehr Chancen, den Bundestag zum zentralen Forum der Willens- und Entscheidungsfindung, der Initiative und Rückkopplung, der Meinungsbildung und Beteiligung auszubauen. Zumindest für diesen Weg der konsequenten und ständig verbesserten Benutzerorientierung gilt dann doch die Devise: "Weiter so - mehr davon!"