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Ein zähes und erbittertes Ringen

DAS RECHT ZU WÄHLEN Aus der Geschichte lässt sich auch eine moralische Wahlpflicht ableiten

16.09.2013
2023-08-30T12:24:04.7200Z
7 Min

Nicht nur die Bürger in den Vereinigten Staaten saßen am 7. November 2000 voll Spannung vor ihren Fernsehern. Wenn die Weltmacht USA einen neuen Präsidenten wählt, dann verfolgen dies Menschen in aller Welt. Schon vorher hatten die Wahlforscher prognostiziert, dass es zu einem Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen dem Demokraten Al Gore und George W. Bush kommen würde. Und es wurde spannend. Erst nach Mitternacht sahen die Fernsehanstalten plötzlich die Republikaner im letztlich entscheidenden Bundestaat Florida vorne liegen und erklärten ihn bereits zum neuen Präsidenten. Gemäß der amerikanischen Gepflogenheiten griff Al Gore zum Telefon und gratulierte Bush zum Wahlsieg. Doch später erreichten Gore Informationen, dass der Vorsprung Bushs in Florida auf rund 2.000 Stimmen geschrumpft sei. Zudem sei es bei der Wahl und der Stimmenauszählung zu Schwierigkeiten und Unregelmäßigkeiten gekommen. Nach dem Wahlgesetz Floridas müsste in jedem Fall eine Neuauszählung der Stimmen angesetzt werden, wenn die Distanz zwischen den Kontrahenten unter 0,5 Prozent liege. Gore rief erneut Bush an und zog sein voreiliges Eingeständnis der Wahlniederlage zurück.

Jede Stimme zählt

Eine erste maschinelle Neuauszählung ließ die Situation noch dramatischer erscheinen: Bushs Vorsprung in Florida war von 1.784 auf 327 Stimmen geschrumpft. Al Gore und die Demokraten beantragten umgehend eine erneute Auszählung der Stimmen - diesmal von Hand. Das Nachrichtenmagazin "Time" brachten die konfusen Zustände auf den Punkt: "Die größte wirtschaftliche Kraftmaschine der Welt, die Geburtsstätte des Informationszeitalters, begann Stimmzettel per Hand auszuzählen. Einhundert Millionen Menschen hatten abgestimmt und das Ergebnis rangierte innerhalb der statistischen Fehlerbreite. Nach 18 Monaten und mehr als einer Milliarde Dolar war das Rennen um die Präsidentschaft 2000 auf ein Fünftausendstel von einem Prozent reduziert worden."

Erst nach 36 Tagen und einem juristischen Tauziehen zwischen Demokraten und Republikanern um immer wieder neue Auszählungen entschied der oberste Gerichtshof der USA mit fünf zu vier Stimmen, dass die Neuauszählung am 26. November durch die Wahlkommission Floridas nun endgültig die letzte gewesen sei. Und diese hatte Bush mit 537 Stimmen Vorsprung zum Sieger der Wahl in Florida erklärt. Der Republikaner konnte nach dem amerikanischen Mehrheitswahlrecht somit die meisten Wahlmännerstimmen auf sich vereinigen und wurde zum neuen Präsidenten gewählt.

Die erste US-Präsidentenwahl im 21. Jahrhundert kann in vielerlei Hinsicht als historisch bezeichnet werden. Vor allem mag sie als Warnung für all jene Menschen in demokratischen Staaten gelten, die - aus welchen Gründen auch immer - von ihrem Wahlrecht keinen Gebrauch machen wollen. Zum einen widerlegt sie die weit verbreitete These, dass es auf eine einzelne Stimme nicht ankomme. Und angesichts der Proteste vor allem der afro-amerikanischen Minderheit in den USA, die Manipulationen bei der Stimmauszählung in Florida anprangerte, muss jedem klar sein, wie wertvoll das Recht auf die Teilnahme an Wahlen ist.

Historisch kann die Wahlentscheidung der Amerikaner aber auch in anderer Hinsicht gewertet werden, wie sich bereits ein Jahr später zeigen sollte. Auch wenn es müßig erscheint, darüber zu spekulieren, wie ein US-Präsident Al Gore auf die Terroranschläge des 11. Septembers 2001 reagiert hätte, so gibt es aber doch deutliche Indizien dafür, dass den USA und dem Rest der Welt der verhängnisvolle Irak-Krieg unter Umständen erspart geblieben wäre.

"Sie haben nicht nur ein Wahlrecht, sondern auch eine Wahlpflicht", bescheinigte SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück einem Bürger dieser Tage in der ARD-Sendung "Wahlarena". Auch die Spitzenkandidaten aller anderen Parteien bemühen sich derzeit, die Bürger von der Notwendigkeit und der moralischen Verpflichtung der Wahlbeteiligung zu überzeugen. Oft wird in diesem Zusammenhang davor gewarnt, dass eine niedrige Wahlbeteiligung zu einer Stärkung kleiner und extremistischer Parteien an den politischen Rändern führt. Und in den östlichen Bundesländern werden die Menschen daran erinnert, dass er gerade mal 23 Jahre zurückliegt, dass sie sich das Recht erkämpft hatten, demokratisch wählen zu können. Die erste und einzige freie demokratische Wahl zur DDR-Volkskammer am 18. März 1990 hat schon deshalb ihren Platz unter den historischen Wahlen in den Geschichtsbüchern verdient - und weil erst sie die Deutsche Einheit mit dem Beschluss der Volkskammer über den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik ermöglichte.

Frauenwahlrecht

Aber auch in den westlichen Staaten, die auf eine vergleichsweise lange demokratische Tradition zurückblicken, wird gerne vergessen, dass großen Teilen der Bevölkerung das Wahlrecht lange Zeit verschlossen blieb. Selbst in Großbritannien, Frankreich und den USA, die den Titel "Wiege der modernen Demokratie" für sich beanspruchen, war von vornherein der Hälfte der Bevölkerung die Teilnahme an Wahlen versagt - den Frauen. Dies ist um so bemerkenswerter, da das Frauenwahlrecht durchaus zeitgleich mit dem Entstehen der ersten Demokratien verhandelt wurde.

Die Französin Olympe de Gouges gilt als die erste Vorkämpferin für die gleichberechtigte politische Teilhabe von Frauen. In ihrer 1791 veröffentlichten "Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin" schrieb sie unter anderem: "Die Frau wird frei geboren und bleibt dem Manne gleich in allen Rechten. (...) Freiheit und Gerechtigkeit beruhen darauf, dass dem anderen abgegolten wird, was ihm zusteht. So stößt die Frau bei der Wahrnehmung ihrer natürlichen Rechte nur an die ihr von der Tyrannei des Mannes gesetzten Grenzen." Ihr politisches Engagement führte die streitbare Frau direkt zur Guillotine. Im Sommer 1793 wurde Olympe de Gouges während der Terrorherrschaft Robespierres verhaftet und durch ein Revolutionstribunal zum Tode verurteilt und geköpft. Dies war zwar auch ihrer erklärten Feindschaft zu den Jakobinern geschuldet, tut ihrem Einsatz für die Rechte der Frauen aber keinen Abbruch.

Auch in den USA bezog sich der Anspruch auf politische Vertretung des Volkes während der Revolution und der Unabhängigkeitsbewegung zunächst ausschließlich auf Männer. Der US-Bundesstaat New Jersey führte zwar 1776 das Wahlrecht für alle Personen mit Besitzstand ein. Verheiratete Frauen waren davon jedoch ausgenommen, da sie keinen Besitz haben durften. Lediglich Witwen kamen in den Genuss des Wahlrechts. 1807 wurde das Wahlrecht aber bereits wieder explizit auf Männer beschränkt.

Es sollten rund 100 Jahre vergehen, bis in den ersten Staaten der Erde den Frauen das Wahlrecht eingeräumt wurde. In Neuseeland, zu dieser Zeit noch ein britisches Territorium mit begrenzter Selbstverwaltung, errangen die Frauen 1893 das aktive Wahlrecht. Der erste souveräne Staat, in dem Frauen zu den Wahlen zugelassen wurden, war schließlich Australien im Jahr 1902. Somit könnte das Land "down under" für sich in Anspruch nehmen, als erste echte Demokratie der Neuzeit zu gelten. Die australischen Ureinwohner blieben in dieser Demokratie jedoch außen vor. Die Aborigines erhielten erst 1965 das Wahlrecht.

Soziale Benachteiligung

In den Staaten Europas und den USA hingegen mussten die Frauen mehrheitlich bis nach dem Ersten Weltkrieg warten, bis ihnen das Wahlrecht zugestanden wurde. In Deutschland wurde am 19. Januar 1919 mit der Wahl zur Deutschen Nationalversammlung erstmals auch zur "Damenwahl" aufgerufen, wie die politisch-satirische Zeitschrift "Kladderadatsch" karikierte: Die Titelseite präsentierte eine Frau im Abendkleid, die sich unter vier männlichen Parteivertretern nach der passenden Begleitung umschaut. Zeitgleich endete auch die soziale Benachteiligung über das Dreiklassenwahlrecht, das nach der Revolution von 1848/49 in Preußen eingeführt worden war. Dieses sah eine ungleiche Stimmgewichtung je nach Steuerleistung der Wähler vor.

Am hartnäckigsten hielten in Europa jedoch die Schweizer und die Lichtensteiner die Frauen von der Wahlurne fern. Noch im Jahr 1959 versagten die Schweizer Männer in einer Volksabstimmung ihren Frauen dieses Recht. Erst eine erneute Volksabstimmung am 7. Februar 1971 machte dieser undemokratischen Tradition ein Ende. Auf Kantonsebene blieben aber in Appenzell-Innerrhoden bis 1990 Frauen ausgeschlossen. Auch in Lichtenstein besitzen Frauen erst seit 1984 das Wahlrecht.

Rassismus

So wie die Frauen, mussten auch Minderheiten und rassistisch ausgegrenzte Bevölkerungsgruppen um ihr Wahlrecht kämpfen. Mit zu den längsten und auch blutigsten Auseinandersetzungen gehört der Kampf der Afro-Amerikaner um die vollen Bürgerrechte in den USA. Zwar wurde ihnen nach dem Ende des Bürgerkriegs und der Sklaverei mit dem 14. Zusatzartikel zur Verfassung das Bürger- und mit dem 15. Zusatzartikel das Wahlrecht gewährt. Allerdings wurde diese Entwicklung in den Südstaaten bereits wenige Jahre danach faktisch wieder zurückgedreht. Mit sogenannten "Black Codes", Gesetzen auf regionaler oder bundesstaatlicher Ebene, wurde das Wahlrecht für Schwarze ausgehebelt. Der offene Terror des rassistischen Geheimbundes Ku-Klux-Klan tat sein übriges.

Erst mit dem Aufkommen der Bürgerrechtsbewegung in den 1950er Jahren konnte erneut eine Gegenbewegung eingeleitet werden. Am 6. August 1965 unterschrieb Präsident Johnson ein neues Wahlgesetz (Voting Rights Act). Mit diesem Gesetz wurden Wahlsteuern, Lesetests und andere Prüfungen aufgehoben. Zudem wurde der Bund autorisiert, die Registrierung von Wählern in Staaten und Bezirken, wo solche Tests zur Anwendung kamen, um Schwarze von der Wahl fern zu halten, zu überwachen. Die Wahl von Barack Obama zum ersten US-Präsidenten afro-amerikanischer Herkunft im Jahr 2008 ist deshalb zu Recht als historischer Abschluss dieses Kampfes eingestuft worden. Noch länger und nicht weniger erbittert mussten die Schwarzen in Südafrika um ihr Wahlrecht kämpfen. Dieser Kampf gipfelte schließlich in der Abschaffung der Apartheid und der ersten freien Wahl am 26. April 1994 in Südafrika, aus der Nelson Mandela als Präsident hervorging.

Das Wort von der "moralischen Wahlpflicht" mag für Nichtwähler nach Pathos klingen. Angesichts des langen Kampfes um das Wahlrecht ist dieses Pathos aber auch nicht falsch.