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Die Kunst der Balance im Ringen um Macht

KOALITIONSVERTRAG Mit der Einigung sollen alle Seiten leben können

02.12.2013
2023-08-30T12:24:08.7200Z
6 Min

Es war ein hartes Stück Arbeit: Zum Schluss saßen die Unterhändler von CDU, CSU und SPD in der Nacht zu Mittwoch im Willy-Brandt-Haus in wechselnder Besetzung noch einmal 17 Stunden beisammen, bis der Koalitionsvertrag endlich stand. In der "Nacht der langen Messer" fanden die künftigen Koalitionäre trotz der vielen strittigen Positionen eine Kompromisslinie, die freilich mit einem fetten Fragezeichen hinter der Finanzierung versehen ist. Und eine Hürde ist noch zu nehmen, bevor der Vertrag mit Leben gefüllt werden kann: Das letzte Wort hat die SPD-Basis beim Mitgliederentscheid Mitte Dezember. Erst dann ist der Weg frei für die dritte Große Koalition auf Bundesebene - oder alles wird zurück auf Null gestellt.

Von der Sechs-Augen-Begegnung der drei Parteichefs bis hin zur großen Runde mit 75 Teilnehmern haben CDU, CSU und SPD seit dem 23. Oktober gestritten, gefeilscht und gedroht. Herausgekommen ist ein Vertrag, der vermuten lässt, dass manche Ecke gewaltsam ins Runde gequetscht wurde. Immerhin kann die 185 Seiten starke Vorlage mit dem Titel "Deutschlands Zukunft gestalten" nun den Parteigremien zur Entscheidung vorgelegt werden.

Zufriedene Chefs

Die drei Parteichefs Angela Merkel (CDU), Horst Seehofer (CSU) und Sigmar Gabriel (SPD) wirkten erstaunlich fit und erleichtert, als sie noch am Tag der Entscheidung den voluminösen Vertrag vorstellten. Merkel, für ihre Nehmerqualitäten bei nächtlichen Verhandlungsrunden berühmt, bedankte sich artig für die "sehr guten und von Vertrauen geprägten Beratungen". Das Kompliment gab Gabriel prompt zurück und lobte die "fairen und nicht selten humorvollen" Gespräche. Seiner Ansicht nach ist ein Vertrag für die "kleinen Leute" herausgekommen. Seehofer frohlockte: "Ich bin hochzufrieden mit dem Inhalt des Vertrages."

Erkennbar mühsam sind gleichwohl manche Ergebnisse zustande gekommen und so wird ein Stück Unsicherheit nicht weichen, ob dieses Bündnis von Dauer sein kann. Zu verschieden war die Ausgangslage nach der Wahl am 22. September mit einem überragenden Sieger Union und einer schwachen 25-Prozent-SPD, zu unterschiedlich die Vorstellungen. Nun muss die schwer berechenbare SPD-Basis das füllige Vertragswerk noch bestätigen, was derzeit niemanden zu einem größeren Wetteinsatz verleiten würde, wenn sich die Parteispitze auch zuversichtlich gibt. Spätestens am 15. Dezember soll das Ergebnis vorliegen, am 17. Dezember sollte mit der Kanzlerwahl die neue Regierung dann stehen.

Das unbeliebte N-Wort für Neuwahlen rutschte der CSU zuletzt heraus, als es rund eine Woche vor Abschluss der Gespräche in Berlin so gar nicht nach Einigungen aussah. Vor Neuwahlen sei ihm "nicht bange", wurde eine Aussage des bayerischen Ministerpräsidenten Seehofer kolportiert. Die SPD wedelte ihrerseits mit dem Mitgliedervotum und sorgte für zusätzlich Zündstoff, nachdem der Bundesparteitag mitten in die Verhandlungen hinein eine Öffnung zur Linkspartei beschlossen hatte. Nun ist die Option Neuwahlen erst einmal vom Tisch.

Mindestlohn

Die Kraftmeierei muss sich durch die wochenlangen Koalitionsverhandlungen gezogen haben wie die Sahne durch die Sauce. Alle drei "Volksparteien" verlangten für sich eine sichtbare Handschrift in dem Dokument, das Deutschland durch die nächsten vier Jahre leiten soll. Aber die Rezepte sind unterschiedlich, was allein beim Thema Mindestlohn deutlich wird. Die Union schwenkte hier von einem klaren Nein zu einem Ja, aber. Nun soll der allgemeine gesetzliche Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro eingeführt werden, jedoch erst 2015 und mit der Möglichkeit, bis 2017 regionale Unterschiede und Ausnahmen zuzulassen. Eine Fachkommission soll in regelmäßigen Abständen über die Höhe des Mindestlohns befinden. Die Wirtschaft warnt zwar vor Jobverlusten, kann aber, wie zu hören ist, mit einem Mindestlohn in der geplanten Größenordnung leben, solange er nicht weiter steigt.

Erschöpft und erleichtert präsentierten sich auch die Generalsekretäre am Morgen nach dem Durchbruch. CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe sprach von einer "starken Unions-Handschrift". Es habe sich gelohnt, hart zu verhandeln. Sein CSU-Amtskollege Alexander Dobrindt, der im neuen Kabinett einen Ministerposten bekommen soll, verkündete stolz: "Wir sind mit allen wesentlichen Elementen im Koalitionsvertrag vertreten." Da wollte SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles nicht zurückstehen und wertete die Gespräche als Erfolg. Das Paket, sagte Nahles, könne den SPD-Mitgliedern guten Gewissens vorgelegt werden.

Steuern

An strittigen Themen mangelte es wahrlich nie. Für Bundeskanzlerin Merkel und ihren Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) war vorrangig, die wirtschaftliche Erfolgsstory Deutschlands mit Wachstum, Beschäftigung und gefüllten Sozialkassen fortschreiben zu können. Die Vorgabe: Keine zusätzlichen Belastungen für die Arbeitgeberseite etwa in der Gesundheitsfinanzierung, keine neuen Schulden ab 2015, keine Steuererhöhungen, auch nicht indirekt. All das findet sich nun im Vertrag wieder. Die SPD konnte sich mit einer Kernforderung, höheren Steuern für Reiche, schlicht nicht durchsetzen, was den finanziellen Spielraum nun einengt. Mitten in der Nacht vermeldeten die Unterhändler, sie hätten sich auf einen Finanzrahmen von 23 Milliarden Euro Mehrausgaben verständigt. Aber woher soll das Geld kommen?

Rente

Richtig teuer werden die Rentenbeschlüsse. So sollen die rund neun Millionen Mütter, die vor 1992 Kinder geboren haben, schon ab Juli 2014 eine höhere Rente erhalten, um die Gerechtigkeitslücke zu jüngeren Müttern mit mehr Rentenpunkten auszugleichen. Die Kosten sollen von der Rentenversicherung getragen werden. Für die SPD wichtig ist der abschlagsfreie Rentenbezug mit 63 Jahren, sofern 45 Versicherungsjahre zu Buche stehen. Die Regelaltersgrenze von 67 Jahren, 2007 von Union und SPD beschlossen, bleibt aber bestehen. Mit Blick auf Geringverdiener, die mindestens 40 Jahre lang Beiträge in die Sozialkassen eingezahlt haben und dennoch im Alter wenig Rente beziehen, will die Koalition ab 2017 eine "solidarische Lebensleistungsrente" einführen. Und spätestens 2019 sollen die Ost-Renten auf Westniveau liegen.

Infrastruktur

Milliarden will die künftige Regierung zudem in Bildung, Forschung und den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur investieren. Die Mittel aus einer ausgeweiteten LKW-Maut und einer "europarechtskonformen PKW-Maut" sollen dem Autobahnnetz zugute kommen. Die PKW-Maut soll dabei, wie von der CSU gefordert, deutsche Autofahrer nicht zusätzlich belasten, sondern nur ausländische. Ob das rechtlich umsetzbar ist, bleibt jedoch abzuwarten. (siehe S. 10)

Erfolgreich war die CSU auch beim Betreuungsgeld, das nicht wie von der SPD erhofft dem weiteren Kita-Ausbau geopfert wird. Verteidigen konnte die Union zudem das Ehe-Privileg. Statt sich auf die gleichgeschlechtliche Ehe mit allen Rechten und Pflichten einzulassen, will die Koalition nun lediglich "darauf hinwirken", sexuelle Diskriminierungen abzubauen. Die Energiewende soll einhergehen mit Versorgungssicherheit, Bezahlbarkeit und Job-Erhalt. Die Förderung von Erneuerbaren Energien soll teilweise gedrosselt werden. Bis zum Sommer 2014 soll eine Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) stehen.

Doppelpass

Bei der doppelten Staatsbürgerschaft setzte sich die SPD ansatzweise durch. Demnach entfällt für die in Deutschland geborenen und aufgewachsenen Kinder ausländischer Eltern der Optionszwang, also die Pflicht, sich bis zum 23. Geburtstag zwischen zwei Pässen zu entscheiden. Die Mehrstaatlichkeit wird akzeptiert, eine generelle Zulassung des "Doppelpasses" ist aber nicht vorgesehen.

Außenpolitisch bekennt sich die Große Koalition zur Europäischen Union, zur NATO und den transatlantischen Beziehungen mit den USA. Deutschland werde "alle Anstrengungen unternehmen, um die Krise in Europa zu überwinden". Der Türkei wird eine große strategische und wirtschaftliche Bedeutung zuerkannt. Ein EU-Beitritt des Landes lasse sich aber nicht garantieren. Auch die NSA-Spähaffäre findet Einzug in das Vertragswerk. So soll für jene Unternehmen eine europaweite Meldepflicht an die EU eingeführt werden, die Daten ihrer Kunden ohne deren Einwilligung an Behörden in Drittstaaten übermitteln.

Kabinett

Platz für Überraschungen bietet noch der Ressortzuschnitt. Mit Rücksicht auf den SPD-Mitgliederentscheid sollen Ministerien und Minister vorerst ein Staatsgeheimnis bleiben. Durchgesickert ist schon, dass die SPD sechs Ministerien bekommt, die CDU fünf und die CSU drei. Dass SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier wieder Außenminister werden soll, ist ein schlecht gehütetes Geheimnis, der Rest ist noch Spekulation. Die Opposition von Linken und Grünen arbeitete sich vor allem an der SPD ab, die sich von Merkel habe über den Tisch ziehen lassen. Linksfraktionschef Gregor Gysi geißelte die gravierenden Unterschiede für Menschen in Ost und West bei der geplanten Berechnung der Lebensleistungsrente. Dies gehe auf Kosten der Ostdeutschen. Linksparteichefin Katja Kipping monierte, die sozial-ökologische Wende bleibe aus, es sei ein Vertrag der "unterlassenen Hilfeleistung" für Arme und Benachteiligte. Grünen-Chefin Simone Peter beklagte, das Papier enthalte "viele Absichtserklärungen mit viel Unverbindlichkeit" und sagte eine "No-future-Koalition." voraus