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Chancen und Illusionen

AFGHANISTAN Anhörung mit gemischter Zwischenbilanz zu zwölf Jahren ISAF-Einsatz

07.04.2014
2023-08-30T12:26:12.7200Z
3 Min

Peter Scholl-Latour ist nicht dafür bekannt, ein Blatt vor den Mund zu nehmen: "Verloren" sei der Krieg in Afghanistan, gescheitert das Konzept des "Nation-buildings", und "völlig illusorisch" sei die Vorstellung, die afghanische Armee auszubilden und ihr die Sicherheitsverantwortung in die Hand zu legen. Wer glaube, die anstehende Präsidentschaftswahl würde etwas zum Besseren wenden, betreibe "Stimmzettelfetischismus" - abgestimmt werde weiterhin nach Clanzugehörigkeit, sagte Scholl-Latour. "Wir können die Leute nicht in unsere Schablonen pressen."

Es sind markante Äußerungen des langjährigen Auslandskorrespondenten und erfahrenen Kriegsreporters, der jüngst seinen 90. Geburtstag feiern konnte. Bei der Anhörung des Auswärtiges Ausschusses in der vergangenen Woche, die eine Zwischenbilanz nach zwölf Jahren Präsenz der Internationalen Schutztruppe in Afghanistan (ISAF) zog, blieben sie bei manchem der anderen geladenen Sachverständigen nicht unwidersprochen.

Chancen

Jan Köhler vom Sonderforschungsbereich "Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit" an der Freien Universität Berlin warnte etwa davor, "die Chance auf die Entwicklung einer legitimen Ordnung nach der Wahl schon jetzt abzuschreiben". Es sei - unterschiedlich ausgeprägt in den Regionen - manches erreicht worden bei staatlichen Basisleistungen wie Grundbildung, Gesundheit, Zugang zu Trinkwasser und Energie. Dort, wo der Staat auf lokaler Ebene besser funktioniere als andere Kräfte, könne er auch von einer "Legitimationsdividende" profitieren.

Auch Adrienne Woltersdorf von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kabul hielt nichts von Schwarzmalerei: Trotz aller Unkenrufe wählen die Afghanen nun einen neuen Präsidenten, und die Tatsache, dass einige der Kandidaten fragwürdig seien, werde auch in der afghanischen Öffentlichkeit kritisiert. "Das ist ein Erfolg." Woltersdorf sprach zudem von einer "neuen Art der Kompromisskultur". Es gehe nicht mehr nur um das Prinzip "eine Ethnie gegen die andere", die Kandidaten hätten sich mit ihren Vizekandidaten über die ethnischen Grenzen hinweg aufgestellt. Woltersdorf forderte insbesondere mehr Engagement für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes: 65 Prozent der Bevölkerung seien unter 25 Jahre alt - wenn diese keine Perspektiven sähen, nützten Fortschritte bei Menschenrechten und Rechtstaatlichkeit wenig.

"Mehr Realismus statt Zweckoptimismus" fordert indes Thomas Ruttig vom "Afghanistan Analysts Network" in Kabul. Große Teile der afghanischen Bevölkerung hätten sich von einer Mission abgewendet, die sie anfangs noch unterstützt hätten. Wichtige Weichenstellungen hätten seit 2001 in die falsche Richtung gewiesen, darunter etwa der Verzicht auf die Wehrpflicht als Instrument des "Nation-building" oder die Einführung eines Präsidialsystems mit seiner starken Machtzentrierung. Zwar blieben nach mehr als zwölf Jahren ISAF "Freiheitserfahrungen" und "Bildungsfortschritte". Die Grundbildung bleibe aber in der Breite unzureichend, gute Bildungsangebote seien hingegen nur für einen kleinen Teil der Afghanen überhaupt erreichbar. Auch Fortschritte beim Wirtschaftsaufbau blieben fraglich, solange diese nicht beim Großteil der Bevölkerung ankommen würden. Rund ein Drittel der Bevölkerung lebe in Armut, etwa die Hälfte der Kinder seien unter- und mangelernährt, argumentierte Ruttig.

Versöhnungsprozess

Der Sachverständige Otto Jäckel nannte die Übernahme der Sicherheitsverantwortung durch afghanische Kräfte - und damit perspektivisch eine Rückkehr zu staatlicher Souveränität - einen "prinzipiell richtigen Weg". Allerdings seien die Erfolgsaussichten fraglich: Das von der internationalen Gemeinschaft etablierte Regierungssystem leide unter "schweren strukturellen Mängeln". Das bisherige "Regime" unter Präsident Hamid Karzai stehe für Inneffektivität, "Überzentralisierung" und Korruption, es lähme die "subnationale Ebene" und marginalisiere das Parlament. Vor allem aber werde es als "einseitige Interessenwahrnehmung der ehemaligen Nordallianz" wahrgenommen, was einem Versöhnungsprozess im Wege stehe. Die Staatengemeinschaft habe von Anfang an den Fehler gemacht, auf Warlords mit ihren Truppen zu setzen, statt diese zu entwaffnen und eine allgemeine Wehrpflicht einzuführen. Zu einem Versöhnungsprozess gehöre zudem, Gesprächsangebote auch der Taliban wahrzunehmen und diese einzubinden, sagte Jäckel. Darin lag er ganz auf der kühlen realpolitischen Linie von Scholl-Latour: Man müsse mit denen verhandeln, die Macht vertreten.