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Vollwertige Volksvertreter

PARLAMENT I Die Kompetenzen der Abgeordneten sind gewachsen. Von der Bedeutung ihrer Arbeit sind die meisten überzeugt

28.04.2014
2023-08-30T12:26:13.7200Z
5 Min

Eine lange robuste Holztafel steht mitten im Raum, bunte Stühle, kleine Tische an den Wänden, das Personal trägt Rasta, hinter der Bar stehen Pastis, Aperol, Sherry. Es ist Montagabend, Sven Giegold, Europaabgeordneter der Grünen, hat die "Epicerie" im Zentrum von Straßburg als Treffpunkt vorgeschlagen. "Ein Geheimtipp. Hier war ich früher schon mit meiner Frau, da waren wir allein unter Franzosen und unerkannt", erzählt er. Noch heute sei das in einer Seitenstraße versteckt gelegene Lokal eine Oase, in die er zwischen Parlamentssitzungen gehe, um abzuschalten.

Ein paar Schritte weiter nur herrscht eine andere Welt. Ein modernes Restaurant, ein kurzes Hineinhören in die Geräusche an den Tischen. Die Gäste sprechen mit verschiedenen Akzenten Englisch, so hören sich keine Einheimischen an und auch keine Touristen. Sondern Politiker. Es ist Sitzungswoche des Europäischen Parlaments (EP): Ausnahmezustand in Straßburg.

Zwölf Mal im Jahr müssen die europäischen Volksvertreter in der schönen französischen Stadt tagen, das schreiben die EU-Verträge vor. (siehe Beitrag unten) Straßburg hat sich darauf eingerichtet, zeitweise Parlamentsstadt zu sein. In der Sitzungswoche sind alle Restaurants geöffnet und die Hotelzimmer dreimal so teuer wie sonst.

Montag ist Anreisetag, am Abend tagen die ersten Arbeitsgruppen. Die Woche im April ist in diesem Jahr nicht irgendeine Sitzungswoche, sondern die letzte der Legislaturperiode. Am Donnerstagabend werden die Abgeordneten abfahren, etwa ein Drittel der derzeit 766 Volksvertreter wird nicht zurück kommen. Das jedenfalls besagt die Erfahrung, seit 1979 die Unions-Bürger erstmals ein Europäisches Parlament direkt wählten.

Giegold ist ausnahmsweise schon am Sonntag angereist. "Wahlkampf", sagt er. Der 45 Jahre alte Abgeordnete ist deutscher Spitzenkandidat seiner Partei, im Duo mit Rebecca Harms, die seit Jahren die Fraktion der europäischen Grünen im EU-Parlament führt. Noch fünf Wochen bis zum Wahltag, bis zum 25. Mai.

Und noch vier Tage im Parlament. Die letzte Woche reiht Abstimmung an Abstimmung. Siebzig Gesetzesdossiers müssen noch abgearbeitet werden. Und etwa einhundert andere Anträge, Resolutionen, Initiativberichte. Abstimmungen als Arbeitsnachweise. Es geht um: das Recht auf ein Girokonto für jedermann, das Verbot von dünnen Plastiktüten, Zuständigkeiten für Handelsklagen, Sanktionen gegen Russland, die Kontrolle der Sozialversicherungen bei ausländischen Arbeitnehmern, das Eindämmen von Spekulationen mit Nahrungsmitteln, einheitliche Ladegeräte für Mobiltelefone, einen sicheren Internet-Zugang für Whistleblower und vieles mehr. "Ehrlich, keiner blickt diese Woche komplett durch", sagt Giegold am Montagabend, bevor der Abstimmungsmarathon beginnt. Weil das Hand-heben seine Zeit dauert, hat das Hohe Haus zusätzliche Sessions angesetzt.

Giegold ist seit 2009 dabei, in seiner ersten Legislaturperiode hat er sich als Finanzexperte fraktionsübergreifend Anerkennung verschafft. Am Dienstag der letzten Sitzungswoche werden auch Dossiers abgeschlossen, die Giegold im Parlament als Berichterstatter mit betreut hat. Die Vereinbarungen zur Bankenunion etwa, dem Vorzeigeprojekt der Europäischen Union. Eine zentrale Aufsicht über die Banken der Euro-Zone soll es bald geben, marode Banken künftig nach zentralen Regeln geschlossen -und die dabei entstehenden Kosten mit dem Geld der Anteilseigner und Gläubiger beglichen werden. Die Bankenunion ist das aktuelle Prestigeprojekt der Euro-Länder; erstmals seit der Einführung des Euro haben die Europäer wieder nationale Kompetenzen an europäische Institutionen übertragen, konkret an die Europäische Zentralbank.

Und das Europaparlament hat mitentschieden. Seit der Lissabon-Vertrag gilt, sind seine Zuständigkeiten gewachsen. Der Haushalt der Europäischen Union muss die Volksvertretung passieren, die Bankengesetze bedurften teilweise der Zustimmung. Die Europaparlamentarier haben Datenschutzgesetze gekippt und Verbraucherschutzgesetze durchgesetzt. Und der Präsident der nächsten EU-Kommission braucht eine Mehrheit der Abgeordneten, um das Amt antreten zu können.

Die meisten der 766 Parlamentarier sind überzeugt, dass ihre Arbeit wichtig ist, dass sie vollwertige Volksvertreter sind. Auch wenn es nur nationale Wähler gibt. Auch wenn sie kein Initiativrecht haben wie nationale Parlamente.

Außerhalb von Straßburg und Brüssel sehen das einige anders. Zuletzt hat das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe verfügt, das Europaparlament brauche angesichts faktischer Bedeutungslosigkeit keine Sperrklausel für Parteien bei der Europawahl. Jeder soll einziehen und reden können, die Funktionsfähigkeit des Parlaments sei nicht dadurch gefährdet, dass Mehrheitsbildung angesichts vieler kleiner Splitterparteien schwieriger bis unmöglich wird. Es gehen ohnehin durchschnittlich nur 43 Prozent der wahlberechtigten Bürger tatsächlich wählen.

Für das Desinteresse hat Herman Van Rompuy, seit Ende 2009 erster Präsident des Europäischen Rates, also der Runde der 28 Staats- und Regierungschefs, eine einfache Erklärung. Die Bürger wüssten, wo die wirkliche Macht in Europa liege, nämlich bei den Chefs. Weshalb sie sich nicht so sehr für das Parlament interessierten. "Skandalös" sei diese Einschätzung, sagt Hannes Swoboda, Österreicher und Fraktionschef der Sozialisten und Sozialdemokraten. Das Parlament sei das einzige direkt gewählte EU-Organ, mithin die Basis europäischer Demokratie. Giegold verweist auf das neu geschaffene Recht auf ein Girokonto für jedermann: "Zwar hat das EU-Parlament kein Initiativrecht, aber es ist befugt, die Europäische Kommission aufzufordern, bestimmte Gesetzesvorschläge vorzulegen. Und genau so ist auch das Recht auf ein Girokonto entstanden", sagt er.

751 Abgeordnete

Nach den Wahlen wird das Europaparlament nicht nur etwa ein Drittel neue Abgeordnete haben, es wird auch schrumpfen auf insgesamt 751 Mitglieder. Wie viele Fraktionen es geben wird, bleibt abzuwarten. Bisher fanden sich die Volksvertreter in sieben Fraktionen zusammen, hinzu kamen zahlreiche Fraktionslose. Die größten Fraktionen waren die europäischen christsozialen Volksparteien (mit CDU und CSU), die Allianz der Sozialisten und Sozialdemokraten, die Liberalen und die Grünen. Jüngsten Kalkulationen der Meinungsforscher könnten auch EU-Skeptiker und Nationalisten auf Fraktionsstärke kommen, bis zu 145 Sitze werden ihnen zugeschrieben. Und auch am linken Rand wird es interessant: bis zu 200 Sitze winken den Linken nach bisherigen Umfragen. Das bedeutet auch: Die gemäßigte Mitte schrumpft. Die beiden großen Fraktionen werden für stabile Mehrheiten eine große Koalition bilden müssen.

In einer Frage existiert eine stabile Mehrheit schon vor den Wahlen. Die Abgeordneten pochen vom konservativen französischen Spitzenkandidaten für Paris, Alain Lamassoure, über Giegold und den SPD-Spitzenkandidaten Martin Schulz bis zu dem FDP-Spitzenkandidaten Alexander Graf Lambsdorff und dem CSU-Parlamentarier Manfred Weber geschlossen auf das Recht, das der Lissabon-Vertrag ihnen zuschreibt. Sie wollen mitbestimmen, wer Chef der nächsten Kommission wird, und keinem Kandidaten zustimmen, den der Europäische Rat bei einem Abendessen am 27. Mai ausklüngeln könnte. Geht es nach dem Parlament, wird der Spitzenkandidat der siegreichen Parteienfamilie vom Europäischen Rat als Kandidat für den Chefsessel der Kommission vorgeschlagen. Das Parlament muss ihm mit Mehrheit zustimmen. "Alles andere wäre Betrug am Wähler", sagt Lamassoure am Mittwochmorgen in seinem Büro. Giegold fährt am Donnerstag zu seiner Familie, Ostern feiern. Danach wird er um jede Stimme kämpfen.