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Selbstbestimmter als vom Staat gewollt

BIOGRAFIE Marianne Birthlers lesenswerter Rückblick auf DDR und Einheit

07.07.2014
2023-08-30T12:26:17.7200Z
2 Min

Sie wolle "einfach erzählen", schreibt Marianne Birthler am Anfang ihrer Erinnerungen "Halbes Land. Ganzes Land. Ganzes Leben.", als sie von ihren - nicht untypischen - Zweifeln an ihrem Vorhaben berichtet, eine "politische Biographie" zu schreiben. Tatsächlich liest sich das ihren Enkelkindern gewidmete Buch so, als würde ihnen die Großmutter erzählen, was sie erlebt hat in der vor fast 25 Jahren untergegangenen DDR und im wiedervereinten Deutschland: Birthler schreibt mit unprätentiöser Offenheit, unterhaltsam und nachdenklich, kritisch und selbstkritisch; der Bogen reicht von familiären Alltagsgeschichten über Dissidenten-Porträts bis hin zur großen Politik.

Da hat diese Frau, 1948 in Berlin geboren, eine ganze Menge zu berichten: Von den Jahren in der Opposition gegen das SED-Regime etwa mit Bürgerrechtsaktionen und Stasi-Repressionen, die schließlich 1989 in die friedliche Revolution und den Mauerfall mündeten, oder von ihren Monaten als Volkskammer- und Bundestagsabgeordnete 1990. Sie war erste Bildungsministerin des wiedergebildeten Landes Brandenburgs, bis sie 1992 im Zusammenhang mit den Stasi-Kontakten ihres damaligen Regierungschefs Manfred Stolpe (SPD) zurücktrat; sie war zwei Jahre lang Vorsitzende der frisch fusionierten Bündnisgrünen und schließlich von 2000 bis 2011 Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen - Stationen mit ihren je eigenen Auseinandersetzungen, Siegen und Niederlagen, die auch ein Stück jüngster deutscher Zeitgeschichte widerspiegeln.

Nicht minder interessant nimmt sich Birthlers Rückblick auf ihre ersten Lebensjahrzehnte aus, in denen sie noch nicht in öffentlichen Funktionen wirkte. Da berichtet sie etwa von der 15-jährigen Marianne, die ihre Tagebücher verbrannte aus Furcht, sie könnten in die Hände der Stasi gelangen. Sie schreibt von Lehrern, die als "Gedankenpolizisten" Bekenntnisse zum Sozialismus erwarteten, und von solchen, die "kleine Inseln der Angstfreiheit schufen". Sie schildert, wie sie sich als Jugendliche, vor die Wahl zwischen FDJ und Kirchengemeinde gestellt, für letzere entschied. Mit knapp 26 Jahren dreifache Mutter, brandmarkt sie die "militaristische Erziehung" staatlicher Kindergärten, die der Tochter erspart blieb, auch wenn der tägliche Besuch des sechs Kilometer entfernten kirchlichen Kindergartens "etwas umständlich" war".

Persönliche Einblicke

So entsteht nicht nur ein Bild der DDR und ihres Untergangs, sondern auch das einer Frau, die ein selbstbestimmteres Leben anstrebte als vom Staat gewollt, und die auch im vereinten Deutschland Einmischen als Bürgertugend versteht. Dabei gibt Marianne Birthler auch sehr persönliche Einblicke in ihr Seelenleben, die im politischen Geschäft eher unüblich sind - etwa wenn sie beschreibt, wie ihr die Knie weich wurden, als sie am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz vor hunderttausenden Demonstranten reden sollte, oder wenn sie die frustrierte Bilanz ihrer Zeit an der Spitze der Bündnisgrünen mit den Worten "Nie wieder ein Parteiamt!" beschließt. Politiker, erkennt der Leser, sind keine Übermenschen, und Engagement kein Vorrecht eines arrivierten Establishments. Auch das macht diese Biografie lesenswert.

Marianne Birthler:

Halbes Land. Ganzes Land. Ganzes Leben.

Erinnerungen

Hanser-Verlag, München 2014;

432 S., 22,90 €