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Sturm bei der Stasi

GEHEIMDIENST Besetzungen und Bürgerkomitees erzwangen das Ende des Ministeriums für Staatssicherheit

28.07.2014
2023-08-30T12:26:18.7200Z
4 Min

Nach fast 60 Jahren Kampf an allen möglichen Fronten gibt sich Stasi-Chef Erich Mielke am 17. Oktober 1989 in der SED-Politbürositzung geschlagen: "Wir können doch nicht anfangen, mit Panzern zu schießen." Als er am 13. November 1989 seine berühmte Volkskammerrede hielt und erklärte, doch alle zu lieben, begann auch das MfS auseinanderzubrechen. Heftig verunsichert waren die Mitarbeiter ohnehin schon - die Vernichtung der Akten hatte begonnen. Mielkes Rede schockte seinen gesamten Apparat, "draußen" sorgte sie für befreite Lachstürme. Sein verunglückter Auftritt kam einer Steilvorlage gleich, die vor allem SED und dann PDS zu nutzen wussten, um das MfS verantwortlich für die Misere zu machen.

Die Geheimpolizei stand schon zuvor im Fokus - bei Demonstrationen, in Aufrufen oder Erklärungen ging es ab September auch immer um die Stasi: Sie sollte in die Produktion. Dort wollte sie allerdings niemand haben. Ab Oktober zogen Demonstranten an MfS-Kreisdienststellen und Bezirksverwaltungen vorbei und forderten lautstark das Ende der Geheimpolizei. In Naumburg stellte sich erstmals ein Kreisdienststellenleiter am 19. November dem Gespräch mit Demonstranten. Seit Mitte Oktober bereitete sich das MfS auf eventuelle Erstürmungen seiner Einrichtungen vor. Am 21. Oktober schrieben Rostocker Offiziere einen Text, der bei einer Belagerung vorgetragen werden sollte. Waffen sollten nur bei lebensbedrohlichen Angriffen eingesetzt werden.

Am 21. November eilte Hans Modrow als neuer SED-Ministerpräsident in die MfS-Zentrale, um Wolfgang Schwanitz als neuen Minister des nunmehrigen "Amts für Nationale Sicherheit" einzuführen. Schwanitz unterstrich, es gelte, die Legitimation "eines Amtes für Nationale Sicherheit in der Öffentlichkeit nachzuweisen", wozu es erforderlich sei, "dass wir Ergebnisse in der Feindbekämpfung erreichen". Intern rechneten seine Offiziere zusammen, dass sie vierzig bis fünfzig Prozent ihrer IM (etwa 40.000 bis 50.000) weiter nutzen könnten. Der hauptamtliche Mitarbeiterbestand sollte reduziert werden, auch die Kreisdienststellen sollten entfallen, aber die Pläne konzipierten mit dem "neuen" Amt nur einen MfS-Klon.

Die Wut der Menschen steigerte sich indes von Tag zu Tag, weil immer mehr Details über die Machenschaften der Funktionärskaste bekannt wurden. Die erste Besetzung eines MfS-Gebäudes fand statt, ohne dass zunächst jemand wusste, dass es sich um ein solches handelte. In Kavelstorf bei Rostock verschafften sich am 2. Dezember 1989 Einwohner Zugang zu einer Halle, in der sie fassungslos ein Lager für den internationalen Waffenhandel entdeckten, insgesamt circa 80 Waggonladungen, darunter 24.760 Maschinenpistolen.

Besetzungen

Am 3. Dezember formulierte das "Neue Forum" eine Erklärung, die kurz darauf als Aufruf mehrerer Oppositionsgruppen herauskam. Darin hieß es, Geld werde ins Ausland gebracht, Akten vernichtet und Verantwortliche setzten sich ab. Die Bürger wurden aufgerufen, das zu unterbinden und Kontrollgruppen einzusetzen. Ab 4. Dezember begannen beherzte Bürger zu handeln. Aktenkundig zuerst in Rathenow, wo gegen 8.30 Uhr einige Männer und Frauen die MfS-Kreisdienststelle, aber auch die SED-Kreisleitung und das Volkspolizeikreisamt blockierten, Taschen und Autos kontrollierten, um zu verhindern, dass Unterlagen beiseite geschafft würden. Um 8.42 Uhr versammelten sich die ersten Menschen auf Initiative der "Frauen für Veränderung" vor der MfS-Bezirksverwaltung Erfurt. Bald wurden die Zugänge blockiert, der Leiter ließ einige Personen ins Gebäude, mittags durchbrach ein LKW den Schlagbaum und einige Hundert Menschen besetzten das Haus.

Rathenow und Erfurt standen am Beginn einer Welle von Begehungen, Besetzungen, Blockaden und Überprüfungen von MfS-Einrichtungen. Fast überall erfolgte dies in Zusammenarbeit zwischen spontan gegründeten Bürgerkomitees sowie der Polizei und der Staatsanwaltschaft. Die Aktenvernichtungen ging in den meisten Orten dennoch ungehindert weiter. Die Modrow-Regierung beschloss überdies am 7. Dezember, sie großflächig fortzusetzen.

Die Bürgerkomitees zur Auflösung des MfS, die sich am 4. Januar 1990 erstmals in Leipzig zu einer Koordinierungsrunde trafen, verfügten über hohen moralischen Kredit, die Regierungsbeauftragten zur MfS-Auflösung über gar keinen. Am 11. Januar demonstrierten 20.000 Menschen vor der Volkskammer gegen das MfS. Erzürnt zeigten sich viele Menschen auch darüber, dass die MfS-Angehörigen von der Modrow-Regierung mit großzügigen Überbrückungsgeldern bedacht wurden.

Das "Neue Forum" rief am 8. Januar für den 15. Januar zu einer Demonstration vor der MfS-Zentrale auf. Symbolisch sollten die Tore zugemauert werden. Am späten Nachmittag des 15. Januar versammelten sich bis zu 100.000 Menschen vor der Zentrale. Irgendwann öffneten sich die Tore, die Zentrale wurde "erstürmt" und "besetzt" - und seither gibt es Streit darüber, wer was wann und warum getan hat oder getan haben könnte. Aber nun beginnt eine ganz neue Geschichte. Auflösung, Aktenvernichtungen, Personenüberprüfungen, heftige Debatten am Zentralen Runden Tisch und in der Volkskammer, erste IM-Enttarnungen, denen Schlag auf Schlag jahrelang neue folgen sollten - die nächsten Monate und Jahre blieb die Stasi ein zentrales Thema in Deutschland.

Die Volkskammer beschließt am 24. August 1990 das "Gesetz über die Sicherung und Nutzung der personenbezogenen Daten des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit/Amtes für Nationale Sicherheit". In einer Protokollnotiz zum Einigungsvertrag wird vereinbart, dass der Bundestag auf der Grundlage dieses Gesetzes ein entsprechendes Bundesgesetz verabschieden solle. Das alles ist von heftigen Auseinandersetzungen und Debatten begleitet. Politisch übergreifend existiert eine Abwehrfont gegen das Aktenöffnungs- und -erhaltungsgesetz. Ebenso aber existiert eine parteiübergreifende Bewegung, die genau dieses Gesetz und damit offene Akten haben will. Sie setzte sich durch, und am 2. Januar 1992 öffnete tatsächlich die Stasi-Unterlagenbehörde ihre Pforten. In Sachen Aufarbeitung und Umgang mit der Vergangenheit wird diese Behörde ein beispielloser staatlicher und gesellschaftlicher Erfolg, der schnell eine enorme internationale Ausstrahlung erreicht. Dieses Gesetz und die damit verbundene Institution haben ihren Aufgaben noch lange nicht erfüllt. Sie sollten nicht voreilig geschliffen werden.