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MAUERFALL : Der Kanzler fühlte sich am falschen Ort

Wegen der Ereignisse in Berlin unterbricht Helmut Kohl 1989 seine Visite in Polen. Nach seiner Rückkehr tauscht er mit Premier Mazowiecki in Kreisau den Friedensgruß

11.08.2014
2023-08-30T12:26:18.7200Z
3 Min

9. November 1989, 18 Uhr: In Ost-Berlin beginnt eine rund einstündige Pressekonferenz, an deren Ende SED-Politbüromitglied Günter Schabowski über die neue Reiseregelung der DDR berichtet. Um 19.05 Uhr verbreitet die Nachrichtenagentur AP als Eilmeldung: "DDR öffnet Grenze". An diesem Abend fällt in Berlin die Mauer.

Zur selben Zeit, von 18.05 Uhr bis 19 Uhr, spricht Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) mehr als 500 Kilometer weiter östlich in Warschau mit dem "Solidarnosc"-Vorsitzenden Lech Walesa. Wie ein Aktenvermerk des Kanzleramts ausweist, bezweifelt Polens späterer Präsident dabei, dass "die Mauer in ein bis zwei Wochen noch stehen wird". Am nächsten Morgen trifft Kohls außenpolitischer Berater Horst Teltschik auf Walesa. Nun sei alles noch viel rascher geschehen, als er das gestern prophezeit habe, sagt Walesa dem Deutschen. Zwar freue er sich über den Fall der Mauer, fürchte aber, dass Polen "den Preis dafür zahlen" werde, da die westdeutsche Politik und Wirtschaft sich nun vollkommen auf die DDR konzentrieren werde. "Meine Antwort soll beschwichtigen, fällt aber schwach aus, denn im Grunde weiß ich, dass er recht hat", erinnert sich Teltschik später in seinem Buch "329 Tage. Innenansichten der Einigung".

Erste Visite

Fünf Tage waren für Kohls ersten offiziellen Besuch in Polen angesetzt. 1970 hatte sein Vorvorgänger Willy Brandt (SPD) mit seinem Kniefall von Warschau ein weltweit beachtetes Zeichen zur Aussöhnung gesetzt. Eine endgültige Aussöhnung lag indes noch ein gutes Stück in der Ferne, weshalb Kohl - wie Teltschik damals zitiert wurde - nicht den Ehrgeiz hatte, mit dem Besuch die Aussöhnung zum Abschluss zu bringen. Er und Polens erster nichtkommunistischer Ministerpräsident seit dem Zweiten Weltkrieg, Tadeusz Mazowiecki, hatten sich aber "vorgenommen, mit diesem Besuch einen Durchbruch in den deutsch-polnischen Beziehungen zu erzielen", wie Kohl in seinen "Erinnerungen" schreibt.

Die Vorbereitungen waren intensiv und schwierig, mit Missverständnissen und Streit. In der Frage der Oder-Neiße-Grenze hatte sich Kohl laut Teltschik "vor der Reise darauf beschränkt, die Rechtspositionen zu wiederholen, die alle Regierungen vor ihm vertretenen haben". Gestrichen wurde das umstrittene Vorhaben eines Besuch Kohls auf dem oberschlesischen Annaberg, auf dem 1921 polnische und deutsche Freischärler blutig aneinander geraten waren.

Und nun kommt, kaum dass der Kanzler in Warschau ist, zu alledem auch noch die Weltsensation des Mauerfalls. Für Kohl stellt sich die Frage, den Besuch zu unterbrechen. Nach einem Staatsbankett spricht er am späten Abend vor mitgereisten Journalisten von der schwierigen Lage gegenüber seinen Gastgebern, aber auch von dem Gefühl, am falschen Ort zu sein. "Aber wenn schon im Ausland, dann ist hier der richtige Platz", würdigt er Polens Vorreiterrolle beim Umbruch in Osteuropa. Danach sieht er die ersten TV-Bilder aus Berlin. "Sofort stand für mich fest, dass ich trotz der Wichtigkeit meines Polen-Besuchs zurück nach Deutschland musste. Der Platz des Bundeskanzlers konnte in dieser Stunde nur in der deutschen Hauptstadt sein", heißt es in Kohls "Erinnerungen".

Über Berlin nach Bonn

Am 10. November setzt er zunächst sein Programm mit Kranzniederlegungen und Gesprächen fort. Um 14.30 Uhr fliegt er über Hamburg nach Berlin zu Kundgebungen, dann weiter nach Bonn, wo er mit der britischen Premierministerin Margaret Thatcher und US-Präsident George Bush telefoniert, am nächsten Tag mit Frankreichs Präsident Francois Mitterrand und mit SED-Generalsekretär Egon Krenz sowie - nach einer Sondersitzung des Bundeskabinetts - mit dem sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow. Gegen 15 Uhr fliegt er zurück nach Warschau.

Dort, schreibt er später, bekommt er zu spüren, dass "die Ereignisse der zurückliegenden Stunden (...) die Sorgen der Polen vor einem übermächtigen Gesamtdeutschland potenziert" haben. Neben gemeinsamen Abkommen und Erklärungen kommt es schließlich bei einem Gottesdienst im schlesischen Kreisau auf dem einstigen Gut des Grafen Moltke, das im Dritten Reich einem Widerstandskreis den Namen gegeben hatte (siehe Seite 6), zur öffentlichen Versöhnungsgeste: Beim liturgischen Friedensgruß umarmen sich Kohl und Mazowiecki nach kurzem Zögern; ein "Gruß der Versöhnung", wie Kohl später sagt. "Wir haben zueinander gesagt: ,Gott segne dich, Gott segne dein Volk'. Und das dürfen wir nicht sagen ohne Folgen."