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BILANZ : Licht und Schatten

Bundesregierung zur Lage und Zukunft Afghanistans

08.12.2014
2023-08-30T12:26:25.7200Z
4 Min

In wenigen Tagen ist letzter Zapfenstreich für die deutschen Isaf-Soldaten. Am 31. Dezember dieses Jahres endet in Afghanistan das Mandat der „Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe“ und damit ein Einsatz, der für die Bundeswehr der umfassendste und auch opferreichste war und der wie kein anderer die außen- und sicherheitspolitische Agenda in Deutschland geprägt hat. Die Bundeswehr wird vorerst weiter vor Ort bleiben – allerdings unter einem neuen Mandat, das nicht mehr als Kampfeinsatz gedacht ist und in dessen Mittelpunkt die Ausbildung und Beratung der afghanischen Sicherheitskräfte steht.

Engagement Wenn der Sonderbeauftragte der Bundesregierung für Afghanistan und Pakistan, Michael Koch, seine Zwischenbilanz dem „Afghanistan-Engagement“ widmet, dann ist das keine Beschönigung für einen in der deutschen Öffentlichkeit bis heute umstrittenen Militäreinsatz, sondern zielt ganz bewusst auf die Tatsache, dass Isaf „nur ein, aber gleichwohl wichtiger Teil des weit darüber hinausreichenden Afghanistan-Engagements war“. Fazit von Kochs Bericht, der Teil des Fortschrittsberichts der Bundesregierung zur Lage am Hindukusch ist (18/3270): „Wir haben in Afghanistan für seine Menschen und für die internationale Ordnungspolitik schon viel erreicht, aber wir sind noch lange nicht am Ziel.“

Auf der Haben-Seite gibt es eine ganze Reihe von Indikatoren, die auf eine deutliche Verbesserung gegenüber der Zeit der Herrschaft der Taliban bis 2001 schließen lassen. So ist die Lebenserwartung von 45 auf 60 Jahre gestiegen, Mütter- und Kindersterblichkeit sind gesunken, das Bruttoinlandsprodukt hat sich mehr als versechsfacht auf 670 US-Dollar pro Kopf. 57 Prozent der Bevölkerung haben Zugang zu medizinischer Grundversorgung, 2002 waren es nur neun Prozent. .2001 gingen lediglich eine Million Kinder – fast ausnahmslos Jungen – in die Schule, heute sind es zwischen acht und neun Millionen, davon 40 Prozent Mädchen. Als Ausdruck dieser positiven Entwicklungen wird in dem Bericht die Tatsache gewertet, dass seit 2002 zwischen 4,7 und 5,7 Millionen Flüchtlinge nach Afghanistan zurückgekehrt sind.

Sicherheit Die bange Frage aber ist, droht das Land mit dem Abzug der Isaf-Truppen in die Hände der Taliban zurückzufallen, die dann die Uhr wiederzurückstellen könnten? In dem Bericht wird festgehalten, dass islamistische Terrorgruppen heute keine Operationsbasen mehr in Afghanistan haben, von denen „für unsere Sicherheit“ oder „für die der Nachbarn“ eine Bedrohung ausgehen könnte. „Afghanen sind mit wenigen Ausnahmen keine treibende Kraft im internationalen islamistischen Terrorismus.“

In dem Bericht wird betont, dass die knapp 200.000 Mann starke afghanische Armee und die mehr als 150.000 afghanischen Polizisten bereits seit Mitte 2013 die Sicherheitsverantwortung in sämtlichen Distrikten übernommen haben und in der Lage sind, eine „ausreichend kontrollierbare Sicherheitslage“ zu gewährleisten. Allerdings ist in dem Bericht auch von „Defiziten bei anspruchsvollen Aufgaben“ und begrenzten Luftkampfmitteln die Rede, „wobei Luftnahunterstützung – trotz aller kritischen Aspekte – eines der wirksamsten Mittel von Isaf“ beim Kampf gegen regierungsfeindliche Kräfte gewesen sei. Und zur Wahrheit gehört auch: Afghanistan ist bei der Finanzierung seiner Sicherheitskräfte weiter auf die Hilfe der Geberländer angewiesen.

Zivilgesellschaft Wichtig ist dem Sonderbeauftragten in seiner Zwischenbilanz noch ein anderer Aspekt: Die afghanische Gesellschaft ist in der Mehrheit nicht empfänglich für radikal-islamistische Abenteuer. Die Zivilgesellschaft habe einen hohen Organisationsgrad und schaue der Kabuler Regierung selbstbewusst auf die Finger, die Medienlandschaft suche hinsichtlich Freiheit und Vielfalt in der Region ihresgleichen. Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung unterstütze die Taliban nicht und lehne Gewalt und Extremismus ab, schreibt Koch. Für die Bundesregierung hat die Präsidentschaftswahl dieses Jahres gezeigt, dass es trotz der Versuche der regierungsfeindlichen Kräfte, die Abstimmung zu be- oder verhindern, „ein in den Anfängen funktionierendes demokratisches Gemeinwesen“ in Afghanistan gebe, „an dessen Zukunft seine Bürger mehrheitlich glauben und das von seinen Sicherheitskräften wirksam verteidigt wird“.

Keinen Erfolg kann sich die internationale Gemeinschaft beim Zurückdrängen des Drogenanbaus auf die Fahnen schreiben. Nach UN-Angaben wurde 1994 in Afghanistan Schlafmohn angebaut mit einem Ertrag von rund 3.400 Tonnen Opium, 2013 lag der Ertrag bei 5.500 Tonnen. Damit zusammenhängend werden im Fortschrittsbericht und der Zwischenbilanz eine Reihe von Problemen aufgezählt, auf deren Lösung die internationale Gebergemeinschaft die Kabuler Regierung im Rahmen des sogenannten Tokio-Prozesses verpflichtet hat. Das gilt etwa für Defizite in der Rechtsstaatlichkeit, Justiz, Korruptionsbekämpfung und bei der Achtung und Durchsetzung der in der Verfassung von 2004 verbrieften Grundrechte, insbesondere der Rechte von Mädchen und Frauen.

Wirtschaft Auf einen Punkt wird im Fortschrittsbericht und der Zwischenbilanz besonders wert gelegt: Es wird kein stabiles Afghanistan geben, wenn die Entwicklung der Wirtschaft nicht vorankommt. Die neue Regierung unter Präsident Ashraf Ghani und Abdullah Abdulah im neu geschaffenen Amt des Regierungsvorsitzenden werde sich „mit Dringlichkeit“ der Aufgabe stellen müssen, ein rechtsstaatliches Geschäftsumfeld zu schaffen und die Weichen für eine „sich selbst tragende Wirtschaft“ zu stellen, schreibt die Bundesregierung. Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung würden auf bis zu 50 Prozent der Erwerbsbevölkerung geschätzt. „Afghanistan besitzt eine junge, schnell wachsende Bevölkerung“, jährlich drängten etwa 500.000 junge Frauen und Männer zusätzlich auf den Arbeitsmarkt und für sie gilt es, Perspektiven zu schaffen.

Deutschland wird im Übrigen bis mindestens 2016 jährlich bis zu 430 Millionen Euro für den Aufbau in Afghanistan bereitstellen und ist damit nach den USA und Japan drittgrößter bilateraler Geber. Die Bundesregierung halte an der Überzeugung fest, dass eine maßvolle Zweckbindung der zugesagten Hilfen der richtige Weg ist, um den nötigen Reformdruck auf die Kabuler Regierung aufrechtzuerhalten.