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ARABISCHER FRÜHLING : Erfrorene Träume

Eine weitgehend ernüchternde Bilanz für die Demokratiebewegungen

13.04.2015
2023-08-30T12:28:00.7200Z
5 Min

Verschwinde! Verschwinde!“, skandierten tausende von Menschen auf der Avenue Bourgiba im Stadtzentrum von Tunis. Die Sicherheitskräfte setzten Wasserwerfer ein, knüppelten die Demonstranten nieder und verhafteten sie reihenweise. Doch niemand ließ sich mehr einschüchtern. Die Menschen hatten ein für alle Mal genug von Zensur, Folter und Polizeistaat. So passierte, was keiner für möglich gehalten hatte: Nach 22-jähriger Amtszeit floh der verhasste Präsident am 14. Januar 2011 Hals über Kopf ins Exil nach Saudi-Arabien. Zine el Abidine Ben Ali war das erste autokratische Staatsoberhaupt, das dem Arabischen Frühling zum Opfer fiel.

Die sogenannte Jasmin-Revolution in Tunesien war der Startschuss für weitere Umstürze in Nordafrika. Im Februar erzwangen Massenproteste in Ägypten den Rücktritt von Hosni Mubarak, der 30 Jahre lang das Nil-Land mit eiserner Faust regiert hatte. Danach traf es Muammar Gaddafi. Der exzentrische Herrscher aus dem Nachbarland Libyen wollte weder zurücktreten, noch fliehen, sondern in seiner Heimat sterben – und so kam es auch. Er wurde am 20. Oktober 2011 von Rebellen in seiner Geburtsstadt Sirte ermordet.

Der Fall der drei Diktatoren ließ andere arabische Präsidenten, Emire und Könige zitterten. Sie fürchteten, die Welle der Revolution könnte auch auf ihre Länder überschwappen. Für ihre Untertanen dagegen galt der Arabische Frühling als Zauberwort. Freiheit und Demokratie schienen in erreichbarer Nähe zu sein. Davon ist heute, vier Jahre später, nichts mehr zu spüren. Es sind keine weiteren Diktatoren gestürzt worden. Die Herrscher am Persischen Golf sitzen fest im Sattel. Nur in Bahrein gab es Proteste der schiitischen Bevölkerung, aber die wurden brutal niedergeschlagen.

In Nordafrika blieb es ebenfalls ruhig. In Marokko und Algerien kam es zu einigen kleinen, verhaltenen Demonstrationen gegen Regime und König. In beiden Ländern scheint die Bevölkerung keinen großen Appetit auf Revolutionen zu haben. In Algerien ist der Bürgerkrieg (1991-2002) zwischen Staat und radikalen Islamisten noch im Bewusstsein. Laut Schätzungen sollen dabei über 100.000 Menschen das Leben verloren haben.

Reformen  In Marokko reformierte man die Verfassung nach dem Beispiel der konstitutionellen Monarchie in Spanien. Die Infrastruktur Marokkos wurde in einem bisher nie gekannten Ausmaß erneuert. Die Wirtschaft boomt. Von der Krise in Europa ist dort nichts zu spüren. Spanier und Franzosen finden im nordafrikanischen Königreich leichter und eine besser bezahlte Arbeit, als in ihren Heimatländern. In Marokko wurde nach der Thronbesteigung Mohammeds VI. bereits eine „Wahrheitskommission“ eingesetzt, die die Verbrechen des Regimes seines Vater Hassan II. aufklärte. Die Sitzungen über die „bleierne Zeit“ wurden Live im nationalen Fernsehen übertragen. Das Königreich ist heute im Vergleich zu anderen arabischen Ländern das liberalste und toleranteste. Für Marokkaner sind Verhältnisse, wie etwa in Libyen oder Syrien, undenkbar. In Syrien tobt weiterhin der Bürgerkrieg und eine Entscheidung ist nicht in Sicht. Auf Rebellenseite gibt es so oder so keinen positiven Ausblick. Zur Zeit existiert da nur die Alternative zwischen den Terrororgruppen Al-Qaida oder „Islamischer Staat“ (IS) – eine schreckliche Wahlmöglichkeit.

Selbst vier Jahre danach ist aus dem Frühling noch kein Sommer geworden. Im Gegenteil – er hat sich in einen Herbst und in einigen Fällen in einen bitteren Winter verwandelt. Einer der Hauptgründe dafür ist der politische Islam. Er war der Trittbrettfahrer der Revolutionen. In Libyen, Tunesien und Ägypten hielten die Islamisten still, bis sie sicher waren, das alte Regime hat keine Chance mehr. Dann schlossen sie sich den Revolutionen an und übernahmen sie. Ob sogenannte moderate oder extremistische Islamisten – sie ruinierten die Bestrebungen nach Frieden und Freiheit.

Bürgerkrieg  In Libyen wollte man nach dem Tod Gaddafis eine neue Verfassung und einen demokratischen Staat errichten. Nichts von dem ist eingetroffen. Libyen trudelte mehr und mehr ins Chaos. Heute befindet sich das erdöl- und gasreiche Land mitten im Bürgerkrieg. Zwei rivalisierende Regierungen bekämpfen sich mit ihren Milizen. Radikale Islamisten der Al-Qaida-Gruppe Ansar al-Scharia kämpfen auf der Seite der Oppositionsregierung. Diese hatte das international anerkannte Kabinett im letzten August 2014 gewaltsam aus der Hauptstadt Tripolis vertrieben. Seit Dezember ist die IS-Terrormiliz in Libyen präsent und sorgte mit einem Video von der Enthauptung von 21 koptischen Christen für weltweites Entsetzen. Unklar bleibt, ob die laufenden Friedensgespräche zwischen den beiden Regierungen eine Lösung bringen. Aber selbst bei einem positiven Ausgang: Die militanten Islamisten wollen aus Libyen einen theokratischen Staat machen. General Khalifa Haftar will sie mit Gewalt stoppen. Der Stabschef der offiziellen libyschen Armee bekämpft sie seit Mai letzten Jahres in Bengasi. Seine Truppen stehen auch vor Tripoli, um die Hauptstadt von der Gegenregierung zu befreien.

In Ägypten spuckte Mohammed Mursi der Revolution gehörig in den Topf. Sie war von meist jungen, liberal und vielfach säkular eingestellten Leuten getragen worden. Als erster frei gewählter Präsident nach den drei Jahrzehnten unter Mubarak, verlor Mursi die sonst so oft apostrophierte muslimische Tugend der Geduld. Der Parteigänger der Muslimbruderschaft wollte sich zum Alleinherrscher Ägyptens machen. Die Straße rebellierte und General Fatha al-Sisi nahm das für einen Putsch zum Anlass. Die Machtübernahme der Islamisten sollte verhindert werden. Al-Sisi, ein Vertreter des gestürzten Mubarak-Regiems, ließ sich 2014 zum Präsidenten wählen. Heute ist Ägypten wieder auf dem Stand vor der Revolution: Es gibt keine Pressefreiheit und Menschenrechte werden mit Füßen getreten.

Als einzige positive Ausnahme gilt Tunesien. Es hat die ersten vier rauen Jahre überstanden. Die Islamisten der Ennahda-Partei hatten 2011 die ersten Wahlen nach dem Sturz Ben Alis gewonnen. Diese Partei der Muslimbruderschaft versuchte, wie Mursi in Ägypten, die Macht zu übernehmen und die Gesellschaft islamistisch umzukrempeln. Sie schickte Religionspolizisten auf die Straßen Tunesiens, um die Bevölkerung zu tugendhaftem Verhalten anzuleiten. Der Ennahda-Parteichef Raschid Ghannouchi suchte die Nähe zu radikalen Salafisten. Er nannte sie „Brüder“ und bat sie um „etwas Geduld“, wie ein Video zeigte, das an die Öffentlichkeit gelangte. Die Salafisten demonstrierten regelmäßig gegen die Unmoral in Tunesien. Bei Protesten gegen die Ausstrahlung des Films „Persepolis“ hatte es im Oktober 2011 gewalttätige Ausschreitungen gegeben.

Zivilgesellschaft  Als 2013 zwei Oppositionspolitiker mitten in Tunis ermordet wurden, hatte die liberale Zivilgesellschaft genug. Zu Hunderttausenden gingen die Menschen auf die Straße. Die Regierungspartei Ennhada galt als Schuldiger der Attentate. Diese Proteste verschärften die politische Krise und brachten Ennahda dazu, ihre Führungsrolle in der Regierung aufzugeben. Nach langem Zögern stimmte die Partei der neu geschriebenen tunesischen Verfassung zu, die die Basis für ein offenes, demokratisches System schuf. Nur eine starke Zivilgesellschaft, die es in anderen arabischen Ländern nicht gibt, hat Tunesien vor der Übernahme der Islamisten bewahrt. Seit den Wahlen 2014 regiert in Tunis eine säkulare Regierung und Ennahda ist in der Opposition. Auch islamistische Attentate, wie auf das Bardo-Museum, können Tunesien und die neue Demokratie nicht erschüttern.

Der Autor berichtet als freier Korrespondent aus Nordafrika und den Ländern der arabischen Welt.