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AMBULANTE HOSPIZE : Sitzwache am Sterbebett

Sterbenskranke Menschen bekommen von ehrenamtlichen Helfern die erhoffte Zuwendung

06.07.2015
2023-08-30T12:28:06.7200Z
7 Min

Morgens 11 Uhr am Rande Berlins. Roger Lindner macht sich auf den Weg zu Irmtraut D. Die 81-Jährige ist unheilbar krank. Sie leidet an einem kardiorenalen Syndrom. Ihr Herz kann die Organe nicht mehr ausreichend versorgen. Die Nierenfunktion ist stark eingeschränkt. Ihr Körper vergiftet sich langsam selbst. Im Pflegeheim der Sozialstiftung Köpenick verbringt sie die letzten Tage ihres Lebens. Vor drei Wochen hatten ihre Töchter den ambulanten Hospizdienst Friedrichshagen angerufen, der ihre Mutter beim Sterben begleiten soll. Zwei ehrenamtliche Helfer kümmern sich seitdem regelmäßig um die Kranke. Eigentlich sollte Frau D. im Kreis der Familie sterben können. Doch nach kurzer Zeit war klar: Die Pflege zu Hause ist nicht mehr zu schaffen.

Bevor Lindner seine Patientin besucht, geht er mit den Pflegekräften des Heims die Medikamentenliste durch. Ist alles optimal eingestellt? Reicht die Höhe der Medikamentendosen aus? Was erzeugt den größten Leidensdruck? Die Atemnot, der Juckreiz, die Übelkeit - oder die Tatsache, nicht mehr in ihrer gewohnten Umgebung zu sein? Gegen Letzteres kann Lindner nichts tun. Für das Andere braucht es lediglich eine ärztliche Verordnung.

Besondere Bedürfnisse Frau D. liegt in einem ruhigen hellen Zimmer mit Blick auf Bäume. Sie hat ein türkisfarbenes Nachthemd an. Das Kopfteil ist hochgestellt, so dass sie besser Luft bekommt und hinausschauen kann. Ein Trinkbecher und Dosen mit Obst stehen auf dem Klapptisch am Bett. Als Lindner eintritt, muss sie ihm erst einmal ihr Herz ausschütten. Sie glaubt nämlich, in ein neues Zimmer verlegt zu werden und wirkt kurzzeitig etwas irritiert. Lindner beruhigt sie, stellt Fragen: Wie es ihr geht, worauf sie Appetit hat, ob sie die Sauerstoffmaske möchte? Frau D. atmet schwer. Das Reden strengt sie an. Nach wenigen Worten braucht sie immer wieder lange Pausen.

Seit drei Jahren ist Lindner Koordinator des ambulanten Hospizdienstes Friedrichshagen. Er organisiert und koordiniert ehrenamtliche Hospizhelfer, Palliativärzte und Pflegekräfte, die die Patienten auf der letzten Etappe ihres Lebensweges begleiten. Auch nach Entlastungsmöglichkeiten für die Angehörigen zu suchen gehört zu seinen Aufgaben. Bis 2012 war er Pflegedienstleiter mit Zusatzausbildung in Palliativpflege. Die Bedürfnisse eines Menschen in diesem Lebensabschnitt und die der Angehörigen sind ihm bestens vertraut.

"In diesem Stadium geht es nicht mehr um Lebensverlängerung um jeden Preis", sagt Lindner. "Unsere Aufgabe ist es, den Willen des Sterbenden zu unterstützen." Das heißt, seine Leiden zu minimieren, ihm Zuwendung zu geben. Zum Netzwerk des ambulanten Hospizdienstes Friedrichshagen gehören unter anderem drei Palliativmediziner, ein Pflegeheim, Kirchen und ehrenamtliche Hospizhelfer. Letztere leisten das Gros der emotionalen Arbeit.

Ein Ehrenamt "Ohne sie würde Hospizarbeit nicht funktionieren", sagt Lydia Willing, Leiterin des ambulanten Hospizdienstes. Die ehemalige Lehrerin und ausgebildete Palliative Care Pflegefachkraft hat den Hospizdienst Friedrichshagen seit 2004 mit anfangs acht Ehrenamtlichen aufgebaut. Zunächst waren sie vorwiegend im Heim tätig. Inzwischen wird jeder zweite Patient beim Sterben zu Hause begleitet. Dafür stehen den drei Koordinatoren heute 82 ehrenamtliche Helfer zur Verfügung: Akademiker, Künstler, Juristen, Verkäuferinnen, Busfahrer. Rund 80 Prozent sind Frauen. Dem aufopferungsvollen Ehrenamt gehen ein Jahr intensiver Schulung und ein mehrwöchiges Praktikum voraus. "Das wichtigste Prinzip der Hospizarbeit ist es, nicht zu werten", betont die Leiterin. "Es ist absolut nebensächlich, was der Mensch in seinem Leben Positives oder Negatives getan hat. Die Schwerstkranken sind auf ihrem letzten Weg. Wir sind nicht dazu da, sie zu erziehen." Die am meisten geforderte Fähigkeit ist, zuhören zu können, nicht nur den Patienten, sondern auch den Angehörigen.

Sterbebegleitung ist ein freiwilliger, unentgeltlicher Dienst. Ob, wann und wie lange sie einen Sterbenden begleiten, entscheiden die Ehrenamtlichen selbst. "Nur wenn ich diese Arbeit freiwillig mache, kann ich das mit vollem Herzen", sagt Willing. Einmal im Monat erhalten die Helfer sogenannte Supervision, also Beratung. Regelmäßig gibt es Fallbesprechungen, Themenabende und Dankeschönfeiern. "Im Durchschnitt dauert Sterbebegleitung bei unseren Patienten acht bis neun Monate. Manchmal können es aber auch zwei Jahre werden oder nur zwei Tage", sagt Willing. Zu jedem Besuch wird ein Protokoll geschrieben, jedes Telefonat dokumentiert. 2014 hat der Hospizdient 260 Anfragen bekommen und 130 Begleitungen abgeschlossen.

Helfer und Freunde Die Arbeit der Ehrenamtlichen richtet sich nach dem, was der Sterbende wünscht und braucht. Sie begleiten ihn zu einem letzten Theaterbesuch, halten Sitzwachen am Sterbebett, hören zu, lesen vor oder sind einfach nur da, um Ängste zu mildern und Angehörige zu entlasten. In manchen Fällen werden Sitzwachen rund um die Uhr gehalten. Ein im Mai verstorbener prominenter Politiker hatte in der letzten Woche seines Lebens die ganze Nacht einen Helfer an seiner Seite. "Oft baut sich bei längeren Begleitungen eine richtige Beziehung, sogar Freundschaft auf", erzählt die Leiterin. "Wenn Menschen wissen, dass sie sterben, spielt die Umgebung oder Ernährung oft keine große Rolle mehr." "Hier..." - Willing zeigt auf die linke Brust. "Das Herz ist bedürftig." Das Erleben von Gemeinsamkeit, Gespräche oder einfach nur da sein nimmt einen hohen, von außen weit unterschätzten Stellenwert ein.

Rund 1.500 ambulante Hospizdienste, 180 stationäre Hospize und 230 Palliativstationen in Krankenhäusern sind nach Angaben des Deutschen Hospiz- und Palliativverbandes (DHPV) in Deutschland tätig. Etwa 80.000 Ehrenamtliche engagieren sich in der Hospizbewegung. Im Vordergrund der Sterbebegleitung stehen eine bestmögliche psychologische und geistliche Betreuung, Schmerzbekämpfung und eine höchstmögliche Lebensqualität für die Patienten.

Der Name Hospiz stammt von dem lateinischen Wort "hospitum" und heißt so viel wie Herberge. Gegründet wurde das erste Hospiz 1967 in London von der englischen Ärztin und Sozialarbeiterin Cicely Saunders. In Deutschland entstanden die ersten Hospize Mitte der 1980-er Jahre.. Der Bedarf an Sterbebegleitung hat seither enorm zugenommen. Nach Angaben des DHPV benötigen von den rund 850.000 Versterbenden pro Jahr rund 600.000 eine Versorgung, in der "allgemeine palliative Aspekte bedeutsam sind". Die jetzigen Strukturen decken davon nur einen Bruchteil ab. In stationären Hospizen und auf Palliativstationen werden insgesamt rund vier Prozent betreut; davon sind ca. 90 Prozent Krebspatienten. Ambulante Hospizdienste übernehmen die Begleitung von schätzungsweise 62.000 Menschen pro Jahr.

"Viele, insbesondere mit nicht-onkologischen Diagnosen sowie alte und pflegebedürftige Menschen werden bislang nicht bedarfs- und bedürfnisgerecht versorgt", lautet das Fazit des Verbandes. Diese Lücke soll durch den Ausbau der Hospizbetreuung und Palliativmedizin zumindest verkleinert werden.

Furcht vor Leiden Die ambulanten Hospizdienste erhalten von den Krankenkassen künftig Zuschüsse nicht nur für Personal-, sondern nun auch für Sachkosten, worunter zum Beispiel Fahrtkosten der Ehrenamtlichen fallen. Im ambulanten Friedrichshagener Hospizdienst machen diese rund 8.000 Euro pro Jahr aus.

Außerdem sieht das Gesetz für Bewohner in Alten- und Pflegeheimen ein hospizliches und palliatives Angebot für die letzte Lebensphase vor. Heime sollen stärker mit Ärzten und Hospizdiensten zusammenarbeiten und Pflegekräfte für die Sterbebegleitung geschult werden. Damit verbunden ist die Hoffnung, dass bei einer guten Versorgung am Lebensende seltener der Wunsch nach Beihilfe zum Suizid oder aktiver Sterbehilfe aufkommt.

Auch Lindner hat die Erfahrung gemacht, dass der Wunsch zu sterben in den Hintergrund tritt, je besser sich Schwerstkranke versorgt und betreut fühlen. "Menschen fürchten vor allem die Leiden, die dem Tod vorausgehen", sagt der Koordinator. Mit Besorgnis verfolgt er deshalb die aktuelle Debatte über Sterbehilfe. "Wir brechen im Moment ein ethisches Tabu. Stattdessen sollte man über die Möglichkeiten reden, die es innerhalb der jetzigen Gesetzgebung gibt", sagt Lindner.

Er ist sicher, dass die Forderung nach assistiertem Suizid allenfalls eine sehr kleine Minderheit betreffen würde. "Viele Menschen wollen trotz des unabwendbaren Endes vor Augen noch weiterleben und greifen nach jedem Strohhalm", sagt er. "Ich habe ein wenig Angst vor den gesellschaftlichen Auswirkungen. Die Frage ist, welche Konsequenzen das für all jene hätte, die bis zum natürlichen Ende leben wollen." Seiner Meinung nach sind die jetzigen Regelungen ausreichend, um Sterbenden selbst schwerste Leiden zu nehmen. Er verweist zum Beispiel darauf, dass es keine Höchstgrenze für die Gabe von Morphin gibt. "Ärzte können Menschen mit unerträglichen Schmerzen auch in ein palliatives Koma versetzen", erklärt Lindner.

Weiter leben Er erinnert sich an eine seiner Patientinnen mit Lungenkrebs im Endstadium. "Sie wollte definitiv sterben und bat darum, ihr dabei zu helfen. Ich konnte ihr nichts geben und fragte, wo das Problem liegt. Es stellte sich heraus, dass das Schmerzpflaster zu schnell in seiner Wirkung nachließ und sie auch nicht mehr richtig schlucken konnte. Wir ließen daraufhin das Pflaster häufiger erneuern und pürierten die Speisen. Als ich sie nach einigen Tagen besuchte, saß sie im Bett und sagte: 'Sterben will ich immer noch. Es muss aber nicht gleich sein'."

Frau D. hat wieder Luftnot, ihr ist permanent übel. "Alles schmeckt nach Zucker", moniert sie. Sie möchte aufstehen und mit dem Rollator im Park ein bisschen spazieren gehen. Lindner hält das angesichts ihrer körperlichen Schwäche für riskant, verspricht aber, mit den Pflegekräften später darüber zu reden.

Bevor sich Lindner an diesem Tag wieder auf den Weg macht, stellt er Frau D. noch eine Frage: "Wenn es abends dunkel wird und Ihr Körper langsam herunterfährt, was spüren Sie dann, was denken Sie?" "Dass ich wohl nicht mehr lange mitmachen werde." "Macht Ihnen das Angst?" Frau D. atmet tief und antwortet: "Nicht unbedingt. Ich würde nur gern noch ein bisschen weiterleben." Katrin Neubauer

Die Autorin arbeitet als freie Journalistin in Berlin.