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VÖLKERRECHT : Cleverer Schachzug

Russland und das Prinzip der »Schutzverantwortung«

10.08.2015
2023-08-30T12:28:07.7200Z
6 Min

Das Jahr 2014 markiert eine Zäsur in der russischen Außenpolitik: Erstmals in der Geschichte seiner Unabhängigkeit seit 1991 hat Russland mit dem Anschluss der Krim fremdes Territorium annektiert. In der Ostukraine führt Russland einen nicht erklärten Krieg, die so genannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk befinden sich unter russischer militärischer Kontrolle. In Georgien bietet sich ein ähnliches Bild: Seit dem August-Krieg 2008 kontrolliert Russland 20 Prozent des georgischen Terri-toriums, die Militärprotektorate Südossetien und Abchasien können nur dank russischer Truppenpräsenz bestehen. Russische Einheiten verändern eigenmächtig die Grenzen dieser Gebiete zu Georgien. Im Mai verabschiedete die russische Duma Bündnis- und Integrationsabkommen mit diesen Regionen, deren Unabhängigkeit bislang weltweit nur von vier Staaten anerkannt wurde. Der georgische Parlamentspräsident David Usupaschwili sagte, dies sei für Georgien "ein weiterer Schritt zur definitiven Annexion".

Wenn Moskau dies auch offiziell abstreitet, so ist doch eine klare Verbindung zwischen der russischen Intervention und den Westbestrebungen dieser Länder zu beobachten. In der Ukraine begann die russische Einflussnahme in Form von Handelssanktionen bereits im Herbst 2013, im Vorfeld des geplanten Abschlusses des Assoziierungsabkommens mit der EU. In Südossetien und Abchasien verstärkten sich die russischen Aktivitäten rund um den Nato-Gipfel 2008, als Georgien sich um einen Beitritt in die Allianz bemühte, wie eine Studie des Politikwissenschaftlers Uwe Halbach von der Stiftung Wissenschaft und Politik zeigt. Abchasien und Südossetien hatten in der ersten Hälfte der 1990er Jahre in Kämpfen für ihre Unabhängigkeit gefochten und größtmögliche Autonomie im georgischen Staat erhalten. Auch auf der Krim hatte es eine - friedliche - separatistische Bewegung gegeben, die jedoch erfolglos blieb, 1995 wurde die Halbinsel unmittelbar Kiew unterstellt.

Konstruierte Bedrohung In beiden Fällen beruft Russland sich auf das völkerrechtliche Prinzip der Schutzverantwortung ("responsibility to protect", informell als R2P bekannt). Bei den georgischen Provinzen Südossetien und Abchasien mussten freilich wegen der verschwindend geringen Anzahl an Russen die Grundlagen erst geschaffen werden: Erst mit der massenweise Ausgabe von russischen Pässen wurden die Südosseten und Abchasen zu russischen Staatsbürgern. In der Ukraine wird die russische Intervention mit dem Konzept des "Russkij Mir", der "Russischen Welt", gerechtfertigt. Demnach sieht Moskau nicht nur die ethnischen Russen, sondern auch die russischsprachigen Ukrainer als Bestandteile einer größeren russischen Welt. Die Verbindungen Russlands zur Ukraine sind durch das gemeinsame Erbe der Kiewer Rus' besonders eng. Viele Russen sehen die Ukrainer als Teil ihrer eigenen Nation. Nach einer Umfrage des russischen Levada-Zentrums von März 2015 antworteten 52 Prozent der Befragten auf die Frage "Sind Russen und Ukrainer ein Volk?" mit "Ja".

Ist mit dem Prinzip der Schutzverantwortung für die russischen Staatsbürger in Georgien und in der Ukraine die Intervention in beiden Staaten zu rechtfertigen?

Die Schutzverantwortung wurde durch die Uno-Generalversammlung als allgemeines Konzept in der Resolution 60/1 im Jahr 2005 bekräftigt. Aber lediglich der Sicherheitsrat sei ermächtigt, gewaltsame Schritte zum Schutz der bedrohten Bevölkerung zu ergreifen, sagt der Professor für Völkerrecht an der Humboldt-Universität Berlin Christian Tomuschat: "Ein militärisches Eingreifen ohne Ermächtigung wäre nur in einer Extremsituation rechtlich zulässig, wenn etwa ein systematischer Völkermord vor der Tür stünde." In der Ukraine sei aber die russische Bevölkerung "nie bedroht" gewesen. Wenn sich Russland zu seiner Rechtfertigung auf das Konzept der Schutzverantwortung beziehe, habe dies "keinerlei Substanz" und sei "lediglich politisches Gerede", folgert Tomuschat. Im russischen Propagandakrieg gegen die Ukraine sei die Bedrohung vielmehr inszeniert worden. Die russischen Medien verbreiteten das Szenario, dass angeblich Faschisten in Kiew die Macht übernommen hätten und die Bevölkerung auf der Krim und in der Ostukraine bedrängten, sagt Tomuschat.

Tatsächliche Bedrohung Während diese "Bedrohung" in das Reich der Propaganda zu verweisen ist, ist die Lage im Falle Georgiens schwieriger. Hier lag mit dem georgischen Angriff auf die Hauptstadt Südossetiens Zchinwali als Reaktion auf die separatistischen Aktivitäten tatsächlich eine Bedrohung vor. Aber dies sei kaum als Verbrechen zu klassifizieren, das die Uno als Grund für ein militärisches Eingreifen nennt, erläutert Professor Stefan Talmon, Direktor des Bonner Instituts für Völkerrecht. Dazu gehörten Genozid, Kriegsverbrechen, ethnische Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Zudem sei das unilaterale Vorgehen unzulässig: "Das Völkerrecht kennt kein Recht auf einseitiges Eingreifen zum Schutz eigener Staatsbürger im Ausland", so Talmon. Der Bezug Russlands auf die Schutzverantwortung sei "ein cleverer Schachzug" denn "Putin nimmt einen bestehenden Begriff und definiert ihn um". Das Prinzip der Schutzverantwortung könne aber nicht dazu missbraucht werden, um "in ein fremdes Land einzumarschieren", kritisiert Talmon.

Dennoch sprach die russische Führung nach dem Angriff auf Zchinwali von einem "Genozid" an den Südosseten und ließ 20.000 Soldaten mit 100 Panzern in Georgien einmarschieren. Es folgte eine Seeblockade und das Bombardement mehrerer georgischer Städte und Regionen. Da diese Aktionen weit über den "Schutz" der Südosseten hinausgingen, liegt der Gedanke nahe, dass es Russland darum ging, das Militärpotenzial Georgiens zu zerstören und die russische Kontrolle über beide Regionen abzusichern, die de facto schon vorher bestand, da die separatistischen Regimes von Russland abhängig waren.

Gescheiterte Integration Russland respektiert die Unabhängigkeit, territoriale Integrität und das Recht auf freie Bündniswahl Georgiens und der Ukraine nicht, obwohl es diese in mehreren bilateralen und internationalen Abkommen anerkannt hat. Seit Beginn der 1990er Jahre bezeichnet Russland den postsowjetischen Raum als "nahes Ausland". Diese Vorstellung vom postsowjetischen Raum als russischen Einflussbereich prägt die außenpolitischen Konzeptionen bis heute. Bereits seit 1993 sieht sich Russland als Verteidiger der Rechte seiner "Landsleute" in den GUS-Staaten. Diese Vorstellungen erlebten ihre Neuauflage in der so genannten Medwedew-Doktrin, die anlässlich des Krieges in Georgien 2008 entwickelt wurde: Demnach ist der Einsatz von Militär zum Schutz der "Landsleute" im Ausland erlaubt.

Der Einsatz von Gewalt ist letztlich eine Reaktion darauf, dass die russische Integrationspolitik im postsowjetischen Raum weitgehend gescheitert ist. Die außenpolitischen Instrumente - wirtschaftliche Druckmittel und Subventionen - sind nicht zukunftsfähig. Russland verfügt über kein attraktives Integrationsmodell, das der Konkurrenz mit der EU standhalten könnte. Die Ukraine, Georgien und andere Staaten wie die Republik Moldau bleiben den Integrationsinitiativen wie aktuell der Eurasischen Wirtschaftsunion fern.

Bislang scheiterten die Integrationsinitiativen auch deshalb, weil sie die Dominanz Russlands als Führungsnation voraussetzten - die von der Ukraine, Georgien, Moldova und einigen anderen GUS-Ländern aber nicht mehr akzeptiert wird. Der August-Krieg in Georgien 2008 und die aktuellen Ereignisse in der Ukraine zeigen, dass Russland bereit ist, seinen Machtanspruch notfalls mit Gewalt durchzusetzen.

Rolle der USA Die russische Führung rechtfertigt ihre Gewaltanwendung damit, dass andere Staaten, allen voran die USA, ebenfalls das Völkerrecht verletzten und wie im Falle des Kosovo-Krieges und den Interventionen in Syrien unter dem Vorwand des Schutzes der Menschenrechte ihre geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen verfolgten. Im Kosovo habe es anders als auf der Krim oder in den georgischen Gebieten Abchasien und Südossetien einen systematischen Völkermord gegeben, sagt Völkerrechtler Tomuschat. In Syrien bekämpfen die USA die Truppen des "Islamischen Staats" IS, wobei Russland eine Entschließung des Sicherheitsrates verhindere. "Gegenseitige Vorwürfe der Großmächte wegen angeblicher Einmischung relativieren niemals die eigenen Völkerrechtsverstöße. Jedes Land ist gehalten, die Grundsätze der Uno-Charta einzuhalten, insbesondere das allgemeine Gewaltverbot", so der Professor. Ähnlich äußert sich sein Kollege Talmon. Gegenmaßnahmen seien rechtlich möglich, solange sie nicht militärisch seien. Die USA hätten aber im Falle des Kosovo wegen ihres Eingreifens ohne UN-Mandat das Völkerrecht gegenüber Serbien gebrochen, nicht gegenüber Russland. "Russland ist kein verletzter Staat und hat somit kein Recht zur Gegenmaßnahme", sagt Talmon.

Die Autorin ist freie Journalistin, bis 2012 in Moskau, nun in Berlin..