Piwik Webtracking Image

RUSSLAND UND CHINA : Großer Bruder, kleiner Bruder

Moskau will aus seiner Isolation herauskommen und sucht Partner »auf Augenhöhe«. Es wendet sich immer mehr dem Reich der Mitte zu

10.08.2015
2023-08-30T12:28:07.7200Z
4 Min

"Die Chinesen", so schrieb der russische Schriftsteller Anton Tschechow von seinen Reisen durch den russischen Fernen Osten an seinen Verleger, "sie werden uns den Amur wegnehmen - das ist unstrittig." Da gehörte die Region entlang des Flusses, den die Chinesen bis heute den "Fluss des Schwarzen Drachen" nennen, seit gerade einmal 39 Jahren dem russischen Zarenreich. 1851 hatte der Gouverneur Nikolai Murawjow-Amurski die menschenleeren Weiten links des Flusses für Zar Nikolai I. eingenommen und den Chinesen den Grenzvertrag von Aigun abgepresst.

Die Angst aber, die Chinesen könnten in Sibirien einfallen, sie sitzt bis heute tief in den Knochen der Russen. Erst kürzlich pachtete das chinesische Unternehmen Zoje Ressources Investment 150.000 Hektar sibirisches Agrarland für ein halbes Jahrhundert. Seit Jahren bauen die Chinesen in Sibirien und in Russlands Fernem Osten Fabriken, hier übernehmen sie Unternehmen, investieren in Immobilien. Kaum eine russische Stadt im dünnbesiedelten Osten kommt ohne einen chinesischen Markt aus, der Grenzverkehr zwischen dem flächengrößten und dem bevölkerungsstärksten Land der Erde, bringt Jobs und Einnahmen. Die Ressentiments gegen die Nachbarn aber, mit denen sich Russland eine mehr als 4.000 Kilometer lange Grenze teilt, finden sich zuhauf im Land. Zeitungen am Amur schreiben von einer "chinesischen Überschwemmung", auch wenn die Einreise- und Arbeitsbestimmungen für Ausländer weiterhin rigide sind.

Bau der »Gegen-Allianz« Und doch: Vor allem seit der russischen Annexion der Krim und der daraufhin erlassenen Sanktionen des Westens pflegt Moskau eine demonstrative Zuwendung nach Peking. Im propagandagetriebenen Diskurs ist die Volksrepublik seitdem der hochgelobte Freund. Man veranstaltet gemeinsame militärische Manöver im Ostchinesischen Meer. Man sucht nach gemeinsamen institutionellen Verflechtungen, die sowohl in der Schanghaier Organisation für Kooperation als auch in der Vereinigung der BRICS-Staaten bereits aufgebaut sind. Man demonstriert Einvernehmlichkeit und versucht sich am Bau einer "Gegen-Allianz", die politische Autarkie betont und liberale Ansätze bekämpft.

Kein westliches Staatsoberhaupt war in diesem Jahr zur Siegesparade am 9. Mai, bei der Russland mittlerweile seine politische und ideologische Selbstidentifikation pflegt, nach Moskau gekommen. Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping allerdings nahm neben Russlands Präsident Wladimir Putin auf dem Roten Platz eine gewichtige Stellung ein. "Seht her, es geht auch ohne den Westen", war die Botschaft an die Bürger beider Länder. China werde zur "natürlichen Wahl" bei der Umorientierung Russlands, weil der Westen bei der Lösung von Problemen ohnehin auf der Verliererstraße fahre, so schreibt Sergej Karaganow, Dekan an der Fakultät für Weltwirtschaft und Weltpolitik an der Moskauer Staatlichen Universität für Wirtschaft, im staatlichen Verlautbarungsorgan "Rossijskaja Gaseta". Selbst Dmitri Trenin, der Direktor des Carnegie-Zentrums in Moskau und ein äußerst liberaler Kopf in Russland, sieht in seinem Aufsatz "Vom Groß-Europa zu Groß-Asien? Die sino-russische Entente" eine neue Epoche anbrechen. Putins Vision von einem gemeinsamen Wirtschaftsraum von Lissabon bis nach Wladiwostok wandle sich nun zu einer Leitidee von Sankt Petersburg bis nach Schanghai, schreibt der Politologe.

In Peking glaubt der Kreml, einen Partner "auf Augenhöhe" zu finden, die westliche Länder, so die gängige russische Meinung, dem Land seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion verweigern. Wie auch die Chinesen setzen die Russen einiges daran, die als alles dominierend empfundene Macht der USA zu brechen und endlich eine multipolare Welt aufzubauen. Bereits unmittelbar nach der Krim-Annexion unterschrieben die Chinesen einen Gasliefervertrag über 400 Milliarden US-Dollar mit den Russen. Mehr als zehn Jahre lang hatten Moskau und Peking darüber verhandelt. Ein Durchbruch in den russisch-chinesischen Beziehungen und ein Gewinn für China, das als Profiteur aus dem Ukraine-Russland-Konflikt hervorging.

Wer ist der Juniorpartner? Das Gleichgewicht der Verhältnisse, die Russland nun sucht, ist nicht nur hier in Frage gestellt. Moskau beschäftigen stets geopolitische Fragen, während für Peking vor allem die wirtschaftlichen Aspekte zählen. War die Wirtschaftskraft der beiden Länder Mitte der 1990er Jahre etwa gleich groß, ist die Volksrepublik nun wesentlich stärker als Russland, auch militärisch holen die Chinesen auf. In Zentralasien aber treten sich beide Länder immer mehr auf die Füße. Baut Russland seine bereits gestartete Eurasische Wirtschaftsunion aus, so will China die zentralasiatischen Länder in sein Seidenstraßenprojekt einbeziehen. Zu Russland gibt es bei den Zentralasiaten eine größere historische Verbindung, in China aber sehen sie eine größere wirtschaftliche Kraft. Peking zeigt sich auch hier pragmatisch und sucht - zunächst - nicht nach Konfrontation.

Vor allem die Versorgung steht für das Reich der Mitte im Vordergrund. Das Land giert nach Öl, nach Kohle, nach Holz, Rohstoffen, die das weite Sibirien mit gerade einmal fünf Millionen Einwohnern ausreichend bietet. Seit 2001 pflegen Chinesen und Russen ihre strategische Partnerschaft, das Handelsvolumen soll in diesem Jahr auf 100 Milliarden US-Dollar steigen. Die Russen schicken ihr Holz, ihr Öl, ihre Buntmetalle über die Grenze nach China. Die Chinesen verkaufen Kleider, Lebensmittel, Elektrogeräte nach Russland.

Das russische Staatsfernsehen spricht nahezu jeden Tag vom großen Brudervolk China. Im Chinesischen aber ist "Bruder" ein streng hierarchischer Begriff. Es gibt den "großen Bruder", gege, und es gibt den "kleinen Bruder", didi. Beide Länder wollen derzeit der "gege" sein. Peking aber sieht Moskau als Juniorpartner an, Moskau will allerdings kein Vasall Chinas sein. Die Russen berauschen sich zwar an der vermeintlich wiedererlangten Stärke, die Allianz mit China jedoch gehen sie aus Schwäche ein.

Die Autorin war Moskau-, und später Peking-Korrespondentin für die "Berliner Zeitung".