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FLÜCHTLINGE II : »Am Rande der eigenen Strafbarkeit«

Nicht nur in Sachsen gründen sich selbsternannte »Bürgerwehren«, teils mit rechtsextremer Unterstützung

07.03.2016
2023-08-30T12:29:57.7200Z
3 Min

Mitte Januar fand die Polizei Sachsen klare Worte zum Thema Bürgerwehren. "Sehr genau und mit großer Sorge" werde deren Gründung beobachtet, teilten die Ordnungshüter auf ihrem Facebook-Account mit. "Wir werden und können sie weder akzeptieren noch mit ihnen zusammenarbeiten." Die Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung sei monopolistischer Auftrag des Staates, Privatpersonen würden weder über die erforderlichen Befugnisse noch eine entsprechende Ausbildung verfügen. "Im Einzelfall bewegen sie sich jenseits ihrer Jedermannsrechte am Rande der eigenen Strafbarkeit."

Die deutliche Positionierung in Sachsen hat ihren Hintergrund: Im Freistaat gibt es - nicht erst seit der Blockade des Busses mit Flüchtlingen in Clausnitz und dem Brandanschlag auf die noch unbewohnte Unterkunft in Bautzen - besonders viele Angriffe gegen Asylsuchende. Viele Sachsen bewaffnen sich. Und sie gründen Bürgerwehren - ob nun in Leipzig, wo sich die Bürgerwehr in "Zivilcourage Leipzig" umbenannt hat, oder in kleinen Ortschaften als Reaktion auf die Ankunft von Flüchtlingen. Manche von ihnen werden schon vor dem ersten Einsatz zum Fall für den Staatsschutz.

Doch Bürgerwehren sind kein sächsisches, sondern ein bundesweites Phänomen. Im vergangenen Jahr stellte die Linken-Bundestagsabgeordnete Martina Renner eine Anfrage an die Bundesregierung, um Informationen zur Einflussnahme von Neonazis auf Bürgerwehren und deren Agitation gegen Flüchtlinge zu bekommen.

Die Regierung listete in ihrer Antwort kurz nach Weihnachten nur sieben Bürgerwehren auf, bei denen es "Anhaltpunkte für eine rechtsextremistische Ausrichtung" gibt, beispielsweise Waibstadt in Baden-Württemberg, wo der neonazistische Zusammenschluss "Freie Nationalisten Kraichgau" im Herbst 2014 vor einer Flüchtlingsunterkunft "Nachtwachen" organisierte. Aufgeführt waren auch der von der Partei "Die Rechte" initiierte "Stadtschutz" in Dortmund und Wuppertal oder von der NPD organisierte "Kiez-Streifen" in Berlin-Pankow.

Nur einen einzigen Fall erwähnte die Regierung, in dem die Beobachtung von Bürgerwehren zu "exekutiven Maßnahmen" geführt hatte - er betraf die im Frühjahr 2015 gegründete "Bürgerwehr FTL/360" in Freital bei Dresden, die unter anderem Asylbewerber in Bussen kontrolliert und zu Anti-Asyl-Aktionen in Freital und Heidenau mobilisiert hatte.

Es schien damals, als würde die Bundesregierung das Problem unterschätzen. Die Aktivitäten von Rechtsextremisten im Zusammenhang mit Bürgerwehren seien zumeist "vereinzelte Maßnahmen von kurzlebiger Dauer", hieß es in der Regierungsantwort. "Langfristige Strukturen bilden sich nur selten heraus." Die Linken-Politikerin Renner widersprach - und zählte zahlreiche weitere Fälle auf, bei denen Neonazis in Bürgerwehren agieren, etwa die Bürgerwehr im thüringischen Gerstungen. Die zuständige Landespolizeidirektion Gotha bestätigt, dass gegen deren Akteure wegen Volksverhetzung ermittelt wurde, die Gruppe sei auch durch Angehörige der rechten Szene aus Eisenach unterstützt worden.

Köln und die Folgen Die Übergriffe gegen Frauen in der Silvesternacht in Köln haben das Problem verschärft. "Nie zuvor entwickelten sich neue Gruppen so schnell wie jetzt", schreibt das Magazin "Bento". Bürgerwehren hätten sich demnach zum Beispiel in Essen und Bielefeld formiert. Mit "Düsseldorf passt auf" sei die größte Gruppe in der nordrhein-westfälischen Landeshauptstadt entstanden. Sie wolle an Wochenenden und bei Großevents durch die Stadt ziehen und durch "Präsenz und Gewaltlosigkeit" für Sicherheit sorgen.

Als Mitte Februar der Landtag von Niedersachsen über Bürgerwehren diskutierte, berichtete Innenminister Boris Pistorius (SPD), inzwischen hätten die Sicherheitsbehörden seines Bundeslandes in 31 Städten und Kommunen Aktivitäten von Bürgerwehren registriert. Oft handele es sich zunächst um Aufrufe im Internet, um Stimmung gegen Flüchtlinge zu machen. Doch werde beispielsweise gegen ein Mitglied der Facebook-Gruppe "Bürgerwehr Hannover" wegen öffentlicher Aufforderung zu Straftaten ermittelt.

"Bürgerwehren braucht niemand", sagte Pistorius. Sie hätten das Ziel, Ängste zu verstärken und zu instrumentalisieren. Der SPD-Politiker äußert sich damit fast wortgleich wie Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU). Er nennt Bürgerwehren ebenfalls "schlicht nicht notwendig" und erklärt, dass sie "teilweise vom rechtsextremen Spektrum für ihre Zwecke missbraucht werden".

Der Rechtsanwalt Heinrich Schmitz sieht die wachsende Zahl von Bürgerwehren auch als eine Reaktion auf die seit Jahren chronisch unterbesetzte Polizei und Justiz. Im Debattenportal "Die Kolumnisten" schrieb er nach der Debatte über Köln, "nahezu zwangsläufig" würden Bürger irgendwann "nach privaten Gegenmaßnahmen Ausschau halten, sich legal oder illegal bewaffnen oder gar Bürgerwehren bilden". Diese würden dann - von den falschen Kameraden infiltriert - "schnell zu einer eigenständigen Gefahr für andere Bürger und eben auch für den Rechtsstaat". Matthias Meisner

Der Autor ist Redakteur beim "Tagesspiegel".