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Stahl I : Schmelzprozess

Billig-Konkurrenz macht der Industrie zu schaffen

02.05.2016
2023-08-30T12:30:00.7200Z
4 Min

Diesseits von 1.535 Grad Celsius ist alles im Fluss. Die Diskussion zwischen Politik und Wirtschaft über den Grundstoff der Zivilisation nähert sich - bildlich gesprochen - diesem Schmelzpunkt. Seit 5.000 Jahren begleitet Stahl - mittlerweile ein Sammelbegriff für rund 2.500 verschiedene Varianten - die Menschheitsgeschichte. Doch nun steht alles zur Disposition. Der Präsident der Wirtschaftsvereinigung Stahl, Hans Jürgen Kerkhoff, hat 2016 zum "Schicksalsjahr für den Stahl" ausgerufen. Zwischen Überkapazitäten und Strafzöllen, Luftverschmutzungsrechten und Billigimporten fällt es selbst Experten schwer, den Überblick zu behalten. "Da wird ein ganz großes Szenario aufgebaut, um neue Allianzen schmieden, Werke schließen und Gewinne steigern zu können", analysiert ein Marktbeobachter.

Der 11. April 2016 gab - unter anderem bei Thyssen-Krupp in Duisburg - einen Vorgeschmack auf die bevorstehenden Diskussionen. Die Industriegewerkschaft Metall hatte unter dem Motto "Stahl ist Zukunft" zum Protest aufgerufen. Allein in Duisburg gingen 16.000 Stahlarbeiter auf die Straße - aus Sorge um ihren Arbeitsplatz und im Unterschied zu gewöhnlichen Streiks bei voller Bezahlung. Obwohl die Hochöfen auf Grundlast heruntergefahren wurden und nichts produzierten, zahlte das Unternehmen den normalen Lohn. Vor dem Haupttor reihte sich das Konzernmanagement von Thyssen-Krupp in die Protestmenge ein und probte den Schulterschluss zwischen Malocher und Manager. Das war wenige Wochen zuvor in Brüssel schon so. Dazu fuhr Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) als Redner große Geschütze auf: "Es geht jetzt um die Zukunft der Industrie. Und damit um die Zukunft unseres Landes."

Geringe Bedeutung Dabei hat die Stahl- und Metallerzeugung in den europäischen Ländern einen Anteil von gerade einmal zwei Prozent an der Wirtschaftsleistung, wie die Prognos AG in einem aktuellen Gutachten feststellt: "In Deutschland liegt die direkte Branchenbedeutung für die Gesamtwirtschaft mit einem Produktionsanteil von 2,3 Prozent (122 Milliarden Euro) und einem Erwerbstätigenanteil von 0,6 Prozent (258.000 Erwerbstätige)." Da braucht es einige Multiplikatoreffekte, um der Branche zu der selbst gefühlten Größe zu verhelfen. Das klingt in der Auftragsarbeit von Prognos dann so: "Die Stahlindustrie ist eine Schlüsselbranche der deutschen Volkswirtschaft. Ihre Bedeutung bemisst sich nicht allein in den reinen Wertschöpfungsanteilen des Wirtschaftszweiges. Vielmehr kommt ihr als Branche, die oftmals am Beginn von Wertschöpfungsketten steht, eine besondere Rolle als Zulieferer zu. "

Kurzfristig bedrohen Billigimporte aus China die Stahlindustrie. Die Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit, OECD, bezifferte das Stahl-Überangebot Ende 2015 auf mehr als 700 Millionen Tonnen. Rund 330 Millionen Tonnen davon stammten aus China. Das entspricht der Menge, die Japan, Indien, die USA und Russland zusammen produzieren. Mit solchen Rechnungen hat die europäische Stahllobby bei der EU immerhin schon erste Anti-Dumping-Zölle von 14 und 16 Prozent durchgesetzt. Zu wenig - kritisiert Stahl-Präsident Kerkhoff: "Die Dumpingspannen der staatlich geförderten chinesischen Stahlwerke liegen bei 60 Prozent."

Kerkhoff spricht von einer "Importflut" billigen Stahls und macht im nächsten Atemzug eine weitere, mittelfristige Bedrohung für den heimischen Stahl aus: den Handel mit Luftverschmutzungsrechten innerhalb der EU ab 2020/21. Auf die "krisengeschüttelte" deutsche Stahlindustrie kämen allein dadurch Mehrkosten von einer Milliarde Euro im Jahresdurchschnitt zu. Bis 2030 werde diese Last auf 1,6 Milliarden Euro pro Jahr ansteigen. Laut der zugehörigen Szenariorechnung der Prognos AG wäre deutscher Stahl ab 2023 nur noch ein Verlustbringer. Zudem verkünden Metallarbeitgeber und Gewerkschaft einmütig: Die wahren Dreckschleudern stünden in China. Dort würden mit jeder Tonne produzierten Stahls 400 Kilogramm mehr Kohlendioxid ausgestoßen als in den modernen europäischen Werken.

China sieht sich zu Unrecht als Buhmann aufgebaut und geprügelt. Im neuen Fünf-Jahres-Plan seien die Stärkung der Binnennachfrage und der Umbau der Riesen-Volkswirtschaft von der Schwerindustrie zur Dienstleistungsgesellschaft die zentralen Punkte. Doch dieser Wandel erfordert Zeit, sagt Oliver Rui, Professor für Finanzen an der China Europe International Business School (CEIBS). Man könne einen Stahlarbeiter nicht binnen weniger Monate umschulen. Die Regierung in China habe knapp 14 Milliarden Euro für Qualifizierungsmaßnahmen bereitgestellt. Rund eine Million Jobs bei Kohle und Stahl seien bereits entfallen. Ähnlich wie europäische Regierungen kann sich auch die chinesische Administration keinen sprunghaften Anstieg der Arbeitslosigkeit leisten - ohne das Gesicht zu verlieren.

Während diese Diskussionen in der Öffentlichkeit geführt werden, bereiten die Stahlmanager in diskreten Konferenzen die nächste Runde der Konzentration auf der Seite der Stahlanbieter vor. Als treibende Kraft dabei haben Branchenbeobachter den Chef von Thyssen-Krupp (TK), Heinrich Hiesinger, ausgemacht. Sein Stahlchef Andreas Goss, ehemals Siemens, hat das Kunststück fertig gebracht, durch Einsparungen von mehr als 600 Millionen Euro den TK-Stahlbereich bisher in den schwarzen Zahlen zu halten. Nun steht die Sparte im Schaufenster, denn Boss Hiesinger hat erkannt, dass die Gewinnmargen im Industriebereich höher sind und sich mit nachgeordneten Wartungsaufträgen ebenfalls Geld verdienen lässt.

Von den drei möglichen Partnern - Tata Steel Europe, Arcelor Mittal und Salzgitter - sollen die Gespräche mit Tata besonders aussichtsreich laufen, heißt es. Derzeit will Tata drei Stahlwerke in Großbritannien loswerden - angeblich weil sie hohe Verluste einbringen. Danach wäre der Weg frei in ein gemeinsames Unternehmen mit Thyssen-Krupp, in der die Deutschen auch mit der Rolle eines Juniorpartners zufrieden wären. Hauptsache, sie könnten die Stahlsparte mitsamt ihren hohen Pensionsverpflichtungen vor die Klammer des Geschäftsberichts ziehen.