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Wirtschaft : Die deutsche Misere

Chance zum Bürokratieabbau durch Digitalisierung nutzen andere Länder besser

13.06.2016
2023-08-30T12:30:03.7200Z
4 Min

Antragsloses Kindergeld. "Gibt es in Österreich. Bei uns nicht." Für Johannes Ludewig nur eines von vielen Symptomen der deutschen Misere: "Wer hätte mal gedacht, dass Österreich uns um zehn Jahre voraus ist?" Die Sitzung des Bundestagsausschusses für Wirtschaft und Energie in der vergangenen Woche begann mit einer höchst ungewöhnlichen Alarmrede.

Ehrgeizige Ziele Der demnächst 71-jährige Ludewig war im Bundeskanzleramt in der Regierungszeit von Helmut kohl (CDU) für Wirtschaft, Finanzen und die deutsche Einheit zuständig. Zwei Jahre lang war er Staatssekretär im Wirtschaftsministerium und Beauftragter der Bundesregierung für die neuen Länder. Zwei weitere Jahre Chef der Deutschen Bahn.

Seit September 2006 steht Ludewig an der Spitze des Nationalen Normenkontrollrates, der damals als unabhängiges Gremium entstand, um das erste Kabinett von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) bei einem ehrgeizigen Vorhaben zu unterstützen und zu beraten, dem "Programm für Bürokratieabbau und bessere Rechtsetzung". Die auf jährlich 49 Milliarden Euro geschätzten Bürokratiekosten der deutschen Wirtschaft um 25 Prozent zu senken, war das stolze Ziel.

Zum Termin im Wirtschaftsausschuss hatte Ludewig eine Sammlung bunter Diagramme mitgebracht, betitelt mit einer Feststellung und einem Appell. "Chancen für Kostenbegrenzung verbessert" - soweit die Feststellung, Ludewigs eigene selbstbewusste Bilanz. "Digitale Chancen tatsächlich nutzen" - das war der dringliche Notruf, den Ludewig an diesem Morgen und vor diesem Publikum loswerden wollte. Denn der Chef des Normenkontrollrats fühlt sich, wie es scheint, von der Politik nicht hinreichend gewürdigt.

Zumindest im Parlament, gab er den Abgeordneten zu bedenken, sei das Interesse an den Anliegen des Bürokratieabbaus, der Gesetzesfolgenabschätzung und einer schlanken, bürgerfreundlichen Verwaltung durchaus "überschaubar", er könnte auch sagen "steigerungsfähig". Wozu so etwas führen kann, mochten die Abgeordneten aus dem fünften Blatt in Ludewigs Sammlung ersehen, einem Diagramm zum "EU-Digitalisierungsindex 2016".

Deutschland auf Rang 18 Der Index zeigt an, wie weit in den 28 Mitgliedsstaaten die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung jeweils gediehen ist. An der Spitze steht Estland, das Schlusslicht bildet Bulgarien. Deutschland findet sich im hinteren Drittel auf Platz 18, während Österreich einen respektablen sechsten Platz belegt. Für Ludewig ist das ein Befund, der ihn nicht ruhen lässt: "Ich hätte mich geschämt als Staatssekretär, zu sagen, in meinem Verantwortungsbereich sind wir die Letzten. Es geht darum, dass wir vorne sind."

Dass dies derzeit nicht der Fall ist, ist nach Ludewigs Ansicht föderaler Kleingartenmentalität und dem mangelnden Engagement der Politik zuzuschreiben. "Die Chance, die die Informationstechnik bietet, hat parteiübergreifend nicht den angemessenen Stellenwert", klagte er. Zwar gebe es einen IT-Staatsvertrag zwischen Bund und Ländern, doch der sei eine Aneinanderreihung von Kann-Bestimmungen und "an Unverbindlichkeit nicht zu übertreffen". Es fehle am "klaren politischen Willen", die Digitalisierung der Administration voranzutreiben. Einsparpotentiale in Milliardenhöhe blieben damit ungenutzt.

Das Ausmaß des deutschen IT-Desasters habe im vorigen Jahr die Flüchtlingskrise enthüllt: Da habe sich gezeigt, dass die IT-Systeme der unterschiedlichen Behörden und Länder allesamt nicht kompatibel waren. So habe "der Flüchtlingsstrom zu keinem Zeitpunkt effizient gesteuert" werden können: "Da muss Deutschland einfach besser, beweglicher, da müssen wir einfach unruhiger werden. Das kann so nicht weitergehen." Beschwörende Worte.

Notwendig seien "gemeinsame IT-Standards für alle wesentlichen Verfahren". Eine vollständige "nutzerorientierte" Digitalisierung. Ein einheitliches Melde- und Personenstandsregister. Kompatible elektronische Formulare. "Wir haben kein Erkenntnis-, sondern ein Handlungsproblem." Vor allem bedürfe es einer "neuen Qualität föderaler Zusammenarbeit", um des Rückstands Herr zu werden, mahnte der Kontrollrats-Chef. Wollte sich jetzt jedes Land seine eigen IT-Strategie basteln, "das wäre eine absolute Katastrophe".

Ein Letztes noch: "Es geht hier nicht um die Portokasse", sagte Ludewig, bevor er sich verabschiedete. "Es geht um ein Strukturdefizit im Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland." Wenn die Wirtschaft weiterhin im bisherigen Tempo auf Digitalisierung setze, während die öffentliche Verwaltung hinterherhinke, seien "Spannungen" zu befürchten, die schließlich auch Wachstum kosten könnten.

Dass es auch anders geht, hatte Ludewig zuvor mit dem Hinweis auf Erfolge seines Gremiums deutlich gemacht, die in dem vom Ausschuss für Wirtschaft und Energie zur Kenntnis genommenen Bericht über die Arbeit des Normenkontrollrates (18/8257) enthalten sind. Ludewig zum Ergebnis der Arbeit des Rates "Es sind Dinge passiert", sehr viele sogar, leider ohne im breiten Publikum viel Beachtung zu finden. So sei die Entlastung der Wirtschaft um zwölf Milliarden Euro, 25 Prozent der Bürokratiekosten, seit 2013 eine Tatsache.

Und nicht zu vergessen die eine oder andere legislative Innovation. Etwa, dass jedes Gesetz, das mehr als eine Million Euro Folgekosten verursacht, nach drei Jahren auf seine Wirksamkeit hin zu überprüfen ist: "Das hat's in der deutschen Rechtsgeschichte bislang nie gegeben", stellte Ludewig erfreut fest.