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CETA : Und alle reden mit

Der Streit um das Handelsabkommen hat gezeigt: Wenn die EU handlungsfähig bleiben will, muss sie sich verändern

14.11.2016
2023-08-30T12:30:09.7200Z
5 Min

Sieben Jahre hatten die Verhandlungsführer um das kanadisch-europäische Freihandelsabkommen Ceta gerungen, dann legten sich die Nachkommen der Gallier quer. Ein kleiner Teilstaat namens Wallonien, gerade mal 3,3 Millionen Einwohner und ein Mini-Parlament mit 75 Abgeordneten, zeigten den hohen Herrschaften in Brüssel, dass europäische Politik - fortan? - an der Basis gemacht wird. Jedes Detail des 1.500 Seiten umfassenden Vertrages (siehe nebenstehenden Text) wollten die Wallonen mitbestimmen. Muss sich die EU also darauf einstellen, dass ein solches "Theater" sich nun bei jedem Abkommen wiederholt?

Ceta, oft als die "Schwester" des besonders umstrittenen TTIP-Paktes mit den USA bezeichnet, sollte eigentlich als "EU-only"-Abkommen laufen. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hatte dies den Staats- und Regierungschefs mitgeteilt, als diese noch mit den Folgen des britischen Brexit-Votums befasst waren. Es gab einen Aufschrei, woraufhin Juncker versprach, nicht "an juristischen Details" zu hängen und Ceta für die Mitsprache der nationalen Parlamente freizugeben. Doch die Bestellung "Einmal Ceta gemischt, bitte" entpuppte sich als Bumerang für die Verhandlungen. Seither weiß niemand mehr genau, wer eigentlich alles mitreden darf - was auch heißt: wer Ceta im denkbar schlechtesten Fall noch stoppen kann.

Ratifizierung steht noch aus Zunächst einmal hat im Dezember das Europäische Parlament in Straßburg das Wort. Eine Mehrheit scheint sicher, Christ- und Sozialdemokraten sowie Liberale werden Ceta unterstützen, Grünen- und Linken-Abgeordnete haben sich bereits schriftlich auf ein "Nein" festgelegt. Das wird dennoch reichen, um die Vereinbarung mit Ottawa in Kraft zu setzen. Zwischen 90 und 95 Prozent der Bestimmungen könnten dann am 1. Januar 2017 in Kraft treten. Es handelt sich ausnahmslos um handelspolitische und wenig umstrittene Inhalte wie Absprachen über den Wegfall der Zölle und den verstärkten Warenverkehr. Doch dieser Start ist nur vorläufig, denn noch steht die Ratifizierung durch die EU-Mitgliedstaaten aus. Und die könnte kompliziert werden.

Die 28 nationalen Parlamente sind auf jeden Fall beteiligt. In vielen Mitgliedstaaten kommen aber auch noch die Länderkammern hinzu. Damit summiert sich die Zahl der mitverantwortlichen Vertretungen bereits auf über 50. Und auch das sind noch längst nicht alle. Denn der wallonische Widerstand in Belgien hat gezeigt: Die verfassungsrechtliche Realität in einigen EU-Staaten ist kompliziert. So müssen die Volkvertretungen der drei belgischen Gemeinschaften ebenso wie die parallel und manchmal auch in Personalunion agierenden Parlamente der drei Regionen in allen wichtigen politischen Fragen beteiligt sein. Europapolitik, Landwirtschaft, Verbraucherschutz, Bildung, Wirtschaft - die belgischen Volksvertreter in den Regionen haben viel Macht. Und Ceta greift tief in die politischen Verantwortlichkeiten vor Ort ein. Ob das nicht nur in Belgien, sondern vielleicht auch in Spanien, Italien oder den Niederlanden der Fall ist? Weder die zuständigen deutschen Ministerien noch die Europäische Kommission konnten das Ende Oktober genau sagen. Der Versuch, den Kopf in den Sand zu stecken, erscheint allerdings gefährlich: Denn Ceta braucht im Rahmen seiner Ratifizierung nach dem Jahreswechsel die Zustimmung "aller relevanten politischen Volksvertretungen, die in den Mitgliedstaaten verantwortlich sind". So steht es im Abkommen. Die Wallonen dürfen damit ebenso noch einmal abstimmen wie die Flamen und die deutschsprachige Gemeinschaft, der Bundestag, der Bundesrat oder die Tweete Kamer in Den Haag. Das europäische Motto "in Vielfalt geeint" erscheint angesichts dieser Situation wie ein Menetekel.

Sollte auf Ceta noch TTIP folgen, ginge das Beratungskarussell wieder von vorne los. Genauso, wenn die EU irgendwann in der Zukunft ein Abkommen über den Zugang zum Binnenmarkt mit den austrittswilligen Briten schließen will.

Fakt ist: Die vertragspolitische Landschaft Europas hat sich mit dem Lissabonner Vetrag von 2009 völlig verändert. Mitbestimmung ist seither auf allen Ebenen gefragt, Regionen, Länder, Bund und EU müssen enger denn je zusammenarbeiten. So kann nicht einmal das Europäische Parlament in Straßburg, das an allen Abstimmungsprozessen beteiligt werden muss, aufgrund der derzeitigen Verfasstheit einiger Mitgliedstaaten alleine entscheiden.

Die Auswirkungen sind gravierend, etwa für Ceta, dessen Start ausgebremst wird. Niemand hat wohl etwas dagegen, dass Ahornsirup nicht mehr wie bisher mit acht Prozent Aufschlag künstlich verteuert wird. Aber andere wesentliche Bestandteile, wie zum Beispiel das künftige Internationale Handelsgericht zur Schlichtung von Streitfällen, haben die Wallonen vorerst gestoppt. Die drei Richter können nun erst berufen werden, wenn die Ratifizierung beendet ist. Dafür hat man sich ein Jahr Zeit gegeben. Ob diese ehrgeizige Frist eingehalten werden kann, ist unklar. Sicher ist lediglich: Sollte nur eine Volksvertretung "Nein" zu Ceta sagen, steht das Projekt vor dem Aus.

Streit um den künftigen Weg Das jahrelange Gerangel um Ceta hat zwei Fronten in der EU offensichtlich gemacht: Auf der einen Seite stehen bis heute jene, die die Mitbestimmung von Regionen für völlig unsinnig und wenig ergiebig halten. Für sie hat Kommissionschef Juncker einen Fehler gemacht, als er die Zuständigkeit seines Hauses für Freihandelsverträge aus der Hand gab. Auf der anderen Seite plädieren die Befürworter möglichst breiter demokratischer Strukturen für eine Beteiligung aller politischen Ebenen, um die Bürger näher an die europäische Politik heranzuführen.

Das Argument klingt überzeugend, aber nur so lange, wie sicher ist, dass die Regionen und nationale Volksvertretungen eine solche Entscheidung tatsächlich unabhängig treffen. In Wallonien wurde Ceta instrumentalisiert und für parteipolitische Grabenkämpfe benutzt. Aber wer wollte das verhindern?

Die EU sitzt zwischen allen Stühlen. Ihre Verpflichtung zur Subsidiarität ist im Lissabonner Vertrag festgelegt, den vor Ort verankerten politischen Ebenen Mitverantwortung zu versagen, wäre fatal. Auf der anderen Seite muss Brüssel zusehen, wie nicht mehr nur die Mitgliedstaaten sich als störrisch bei der Umsetzung von Beschlüssen zeigen, für die Junckers Kommission eigentlich ein klares Mandat hat. Auch die Regionen sperren sich und fordern Entscheidungsrechte, weil ihnen diese aufgrund der verfassungsrechtlichen Strukturen zustehen. Hinzu kommt, dass die Gemeinschaft ohnehin unter massivem Druck steht, weil Brüssel von vielen Europakritikern mit undemokratischen Strukturen, Machtfülle und überbordender Bürokratie gleichgesetzt wird.

Ceta ist damit ein wichtiger Prüfstein für die europäische Politik und die Frage, welche Konsequenzen aus dem Drama gezogen werden müssen. Juncker nannte die Verhandlungen "einen holprigen Versuch", der "keine hohe Staatskunst" gewesen sei. Sein Vorschlag: Bei künftigen Vertragsgesprächen sollten die handelspolitischen Inhalte von den politischen Bestandteilen getrennt werden. Brüssel wäre dann wie gehabt für die Außenwirtschaftspolitik zuständig, die Mitgliedstaaten könnten über die Themen abstimmen, die sie betreffen. Ähnlich äußerte sich auch der deutsche EU-Kommissar Günther Oettinger: "Ich glaube, dass eine Entflechtung der Kompetenzen dringend nötig ist." Schließlich gehe es um die Frage, wie die EU ihre Wirtschaftsbeziehungen und ihre Arbeitswelt im Verhältnis zu anderen Märkten regeln wolle. "Ist die EU noch handlungsfähig?", fragte er und gab selbst die Antwort: "Ich glaube ja." Dabei sind sich alle einig: Angesichts der bevorstehenden Brexit-Gespräche sollte die EU diese Frage schnell klären.

Der Autor ist freier Korrespondent in Brüssel.