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EUROPA : Die einsame Kanzlerin

Die Koalition der Willigen in der Flüchtlingsfrage ist in Auflösung begriffen. Eine Einigung über das weitere Vorgehen soll es frühestens auf einem Sondergipfel mit…

22.02.2016
2023-08-30T12:29:56.7200Z
4 Min

Bis in die frühen Morgenstunden hatten die 28 europäischen Staats- und Regierungschefs beraten. Doch am Ende des EU-Gipfels in Brüssel gab es am vergangenen Freitag keinen echten Durchbruch in der Flüchtlingsfrage. Zum einen wurde das Treffen von einem anderen Streitthema dominiert: den Verhandlungen über die Bedingungen Großbritanniens für einen Verbleib in der EU (siehe Seite 5). Zum anderen war bereits im Vorfeld des Gipfels klar geworden, dass die sogenannte Koalition der Willigen, auf die Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) in der Flüchtlingsfrage setzt, in Auflösung begriffen ist. So hatte sich Frankreich gegen eine Umverteilung von Flüchtlingen positioniert und Österreich eine Obergrenze bei Asylanträgen eingeführt.

Merkels Idee, dass sich die europäischen Staaten wenigstens auf freiwilliger Basis die Last der Flüchtlingskrise teilen könnten, findet kaum noch Anhänger. Sie steht aber auch nicht mit ganz leeren Händen da: Die europäische Führungsriege hat auf ihr Drängen hin beschlossen, in rund zwei Wochen einen Sondergipfel mit der Türkei abzuhalten; Ministerpräsident Ahmet Davutoglu hatte eigentlich schon diesmal nach Brüssel kommen wollen, musste aber nach einer Reihe von Bombenanschlägen in der Türkei kurzfristig absagen.

Zudem steht ein für Merkel wichtiges Bekenntnis im Abschlussdokument des Gipfels: Der am 29. November 2015 beschlossene EU-Türkei-Aktionsplan habe Priorität für eine gemeinsame Flüchtlingspolitik, heißt es darin. Die Türkei soll danach in den kommenden zwei Jahren drei Milliarden Euro bekommen, um die 2,6 Millionen syrischen Kriegsflüchtlinge im Land besser versorgen und so von der Weiterreise nach Europa abhalten zu können.

In ihrer Regierungserklärung vor dem Bundestag hatte die Kanzlerin einen Tag vor Gipfelbeginn noch einmal deutlich gemacht, dass sie für den "europäisch-türkischen Ansatz" kämpfen werde. Nur mit der Türkei als Partner könnten die Fluchtursachen effektiver bekämpft und die EU-Außengrenzen besser geschützt werden, zeigte sie sich überzeugt. Andernfalls gehe es um die Frage: "Müssen wir aufgeben und stattdessen, wie jetzt manche vehement fordern, die Grenze Griechenlands zu Mazedonien und Bulgarien schließen mit allen Folgen für Griechenland und die Europäische Union insgesamt?"

Das dies in den Augen der Bundesregierung keine Lösung sein kann, betonte am vergangenen Freitag auch Innenminister Thomas de Maizière (CDU) im Parlament: Es liege im Interesse Deutschlands, "so lange wie möglich an Schengen festzuhalten. Das heißt: Schutz der Außengrenzen und möglichst wenig Kontrollen innerhalb Europas".

Ungeduld wächst Merkel räumte in Brüssel jedoch ein, dass es dauern könne, bis konkrete Projekte zur Verbesserung der Lage der Flüchtlinge in der Türkei anlaufen. Beim Sondergipfel im März solle eine erste Bilanz gezogen werden. Viele EU-Staaten sind ungeduldig. In der Abschlusserklärung bemängeln sie, dass die Türkei zwar Maßnahmen getroffen habe, um den Aktionsplan umzusetzen. Die Zahl der Migranten, die aus dem Land nach Griechenland kämen, sei jedoch "nach wie vor zu hoch".

Die Bundeskanzlerin setzt nun darauf, dass der am 11. Februar beschlossene Nato-Einsatz gegen Schleuser in der Ägais die Zahlen niedrig halten wird. Die Türkei habe sich bereit erklärt, "die Flüchtlinge, die im Rahmen von Frontex, aber auch von NATO-Schiffen gerettet werden, wenn sie in Not sind, wieder zurückzunehmen", betonte sie im Bundestag.

Die Vereinbarung neuer Kontingente zur Umverteilung von Flüchtlingen in der EU war in Brüssel kein Thema. Im Bundestag stellte Merkel klar, warum das in ihren Augen auch "lächerlich" gewesen wäre: "Noch nicht einmal ansatzweise" funktioniere die beschlossene Umverteilung von 160.000 Flüchtlingen. Tatsächlich sind nach Angaben der EU-Kommission erst 583 Migranten aus Griechenland und Italien in andere EU-Staaten verteilt worden.

Dass es so nicht weitergehen kann, betonte SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann: "Ein Kontinent von 500 Millionen Einwohnern kann nicht ein Land Land wie die Türkei mit 70 Millionen Einwohnern darum bitten, an seiner Stelle die humanitäre Flüchtlingskrise allein zu lösen. Ein solcher Vorschlag disqualifiziert sich von selbst." Für Oppermann "steht und fällt" die Zusammenarbeit mit der Türkei daher mit der Frage, "ob wir bereit sind, ihr einen Teil der Flüchtlinge abzunehmen".

Katrin Göring-Eckardt (Bündnis 90/Die Grünen) zitierte eine aktuelle Studie, der zufolge 80 Prozent der europäischen Bevölkerung eine solidarische Verteilung der Flüchtlinge innerhalb Europas befürworten. "Ehrlicherweise", fügte sie hinzu, könne aber auch niemand sagen, "wie viele Menschen noch kommen werden."

Die Fraktionsvorsitzende der Linken, Sahra Wagenknecht, kritisierte dagegen erneut die Wahl der Türkei zum wichtigstem Partner der EU in der Flüchtlingskrise. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan sei mit seiner "blutigen Politik gegen die Kurden im eigenen Land und mit seiner Unterstützung von islamistischen Terrorbanden in Syrien geradezu eine personifizierte Fluchtursache", polterte Wagenknecht. Wenn die Bundesregierung die Flüchtlingszahlen wirklich reduzieren wolle, müsse sie aufhören, weiter Waffen in die Krisenregion zu liefern, forderte sie.

Streit um Obergrenze Österreichs Kanzler Werner Faymann musste in Brüssel heftige Kritik einstecken für die Entscheidung seines Landes, nur noch 80 Asylanträge pro Tag annehmen zu wollen. Österreich habe im Unterschied zu den meisten anderen EU-Staaten zunächst sehr großzügig Flüchtlinge aufgenommen und könne dies nun nicht mehr schultern, begründete Faymann den Alleingang des Alpenstaates.

Ein griechischer Regierungsvertreter in Athen befürchtet nun einen "Dominoeffekt Richtung Griechenland". Und die Lage auf der so genannten Balkan-Route dürfte sich weiter verschärfen, nachdem auch Serbien inzwischen seine Grenze zu Mazedonien geschlossen hat. Zusätzlich machen die Visegrad-Staaten Tschechien, Ungarn, Polen und die Slowakei Druck und verlangen eine Senkung der Flüchtlingszahlen bis Mitte März. Andernfalls wollen sie die Grenze von Griechenland nach Mazedonien dicht machen.

In der Brüsseler Gipfelerklärung warnen die EU-Chefs vor "unkoordinierten Maßnahmen" in der Flüchtlingskrise. Doch ob sie weitere nationale Alleingänge verhindern können, steht frühestens in zwei Wochen fest.

Silke Wettach ist Korrespondentin der Wirtschaftswoche in Brüssel.