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TÜRKEI : Er droht doch nur

Die Fraktionen im Bundestag weisen Nazi-Vergleiche aus Ankara geschlossen zurück

13.03.2017
2023-09-21T09:11:19.7200Z
4 Min

Selten ist der Ton in Ankara so schrill und vergiftet wie in den vergangenen Wochen: Von "Nazi-Praktiken" hatten der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan gesprochen, nachdem in einigen Orten in Deutschland Wahlkampfauftritte türkischer Minister untersagt worden waren. Entsprechend hoch schlugen die Wogen vergangene Woche im Bundestag und entsprechend deutlich fiel die Antwort fraktionsübergreifend aus: Wer solches über die deutsche Demokratie sagt, der disqualifiziert sich selbst, sagte Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) vor Eintritt in die Tagesordnung und fand damit Zustimmung im ganzen Haus. In diesen "turbulenten, manchmal hysterischen Zeiten" könne sich jeder sein eigenes Bild machen, wo Menschenrechte geachtet, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung gesichert und Meinungs- und Pressefreiheit praktiziert werden.

Lammert verteidigte das Recht türkischer Politiker, in Deutschland aufzutreten. Da Prinzipien wie Meinungs- und Pressefreiheit hierzulande "nicht zur Disposition stehen, bitten wir die Menschen in Deutschland um Verständnis, dass wir sie auch bei begründeter Empörung anderen nicht verweigern". Sollte die von Staatspräsident Erdogan geplante Verfassungsreform beim Referendum am 16. April gebilligt werden, entwickle sich die Türkei zu einem "zunehmend autokratischen Staat, der sich immer weiter von Europa, seinen Überzeugungen und demokratischen Standards, entfernt", warnte Lammert.

Im Anschluss bezog auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) in ihrer Regierungserklärung zum Frühjahrsgipfel der Europäischen Union in Brüssel (siehe Seite 9) Position: Vergleiche der Bundesrepublik mit dem Nationalsozialismus seien "traurig" und "deplatziert". Doch so "unzumutbar" manches sei - "unser außen- und geopolitisches Interesse kann es nicht sein, dass sich die Türkei noch weiter von uns entfernt". Deutschland müsse sich nach Kräften für die deutsch-türkischen Beziehungen einsetzen, "auf Basis unserer Werte, unserer Vorstellungen und in aller Klarheit".

Die rund 1,5 Millionen Türken mit deutscher Staatsbürgerschaft oder jene, die schon lange in Deutschland lebten, nannte die Bundeskanzlerin einen "Teil Deutschlands". Sie trügen zum Wohlstand und guten Zusammenleben bei, innertürkische Konflikte sollten nicht in dieses Zusammenleben hineingetragen werden.

Unions-Fraktionschef Volker Kauder (CDU) forderte die Wahrung der Grundfreiheiten in der Türkei ein. Nach Deutschland kommen zu wollen, aber Bundestagsabgeordneten Reisen zu den in der Türkei stationierten Bundeswehrsoldaten zu verbieten, gehe überhaupt nicht, sagte der CDU-Politiker. Ein Land, dessen Repräsentanten sich so verhalten wie Erdogan, brauche sich nicht zu wundern, "wenn der Tourismus zurückgeht. In einem solchen Land wollte ich auch nicht Urlaub machen", betonte Kauder.

SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann warnte vor weiterer Eskalation. Darunter würden vor allem die türkischstämmigen Menschen in Deutschland leiden. Erdogan suche mit seinen "schrillen Provokationen" ein Feindbild aufzubauen. "Ich finde, dabei sollten wir ihm nicht helfen." Allgemeine Einreise- oder Redeverbote für türkische Politiker lehnte Oppermann ab. Deutschland müsse sich jedoch weiter für die Freilassung der in der Türkei inhaftieren Journalisten einsetzen. "Die Türkei muss wieder zurückkehren auf einen demokratischen Weg, sonst kann sie kein enger Partner von Deutschland und Europa bleiben."

Der Fraktionsvorsitzende der Linken, Dietmar Bartsch, forderte die Bundesregierung auf, die Türkei deutlicher zu kritisieren. NS-Vergleiche seien "völlig inakzeptabel", genauso wie die massenhafte Verhaftung von unliebsamen Journalisten und Oppositionspolitikern. Bartsch erinnerte daran, dass der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) 1992 wegen Verstößen gegen den Nato-Vertrag ein Waffenembargo gegen die Türkei erlassen habe, während die Große Koalition heute weiter Waffen in das Land exportiere. Als eine weitere Möglichkeit, die Entwicklungen in der Türkei zu sanktionieren, nannte Bartsch das Einfrieren der EU-Vorbeitrittshilfen.

Bartschs Fraktionskollegin Sevim Dagdelen warnte davor, dass mit dem öffentlichen Aufruf des türkischen Innenministers "zum politischen Mord an Andersdenkenden in Deutschland" auch deutsche Abgeordnete zur Zielscheibe würden. Erdogan warf sie einen "Werbefeldzug für die Diktatur" vor, weshalb unbedingt verhindert werden müsse, dass Deutschland sich als "Wahlkampfarena" für die Türkei missbrauchen lasse. "Meinungsfreiheit beinhaltet nicht das Recht, hier Werbung zu machen für die Einführung der Todesstrafe und eine Ein-Mann-Diktatur", betonte Dagdelen.

Drei Abgeordnete der Grünen demonstrierten während der Debatte im Plenum für die Freilassung des in der Türkei inhaftierten Journalisten Deniz Yücel. Sie standen nach der Regierungserklärung der Bundeskanzlerin von ihren Plätzen auf und trugen weiße T-Shirts mit der Forderung "#Free Deniz". Nachdem Bundestagspräsident Lammert sie auf die Hausordnung verwies, verließen sie den Saal.

Grünen-Parteichef Cem Özdemir rief die in Deutschland lebenden Türken auf, beim türkischen Verfassungsreferendum mit Nein zu stimmen. "Unsere Demokratie ist nicht dazu da, in der Türkei eine Diktatur zu errichten", sagte der türkischstämmige Politiker. "Nehmt den Menschen in der Türkei nicht die Freiheit, die ihr hier in unserem Land gemeinsam mit uns genießt." Darüber hinaus warb er für die Schaffung eines deutsch-türkischen Fernsehsenders, "eine Art deutsch-türkisches Arte".

Auftrittsverbote für türkische Politiker in Deutschland lehnte Özdemir ab. "Zu einer Türkei-Strategie muss auch gehören, dass wir sagen: Ihr könnt hier auftreten, weil das unseren demokratischen Grundsätzen entspricht", sagte er. "Aber wir erwarten von der Türkei im Gegenzug eine Geste des guten Willens." Konkret forderte Özdemir die Freilassung des in Untersuchungshaft sitzenden deutschen Journalisten Deniz Yücel sowie des inhaftierten Vorsitzenden der kurdischen Oppositionspartei HDP, Selahattin Demirtas.

Keine Mehrheit fand die Linksfraktion mit zwei Entschließungsanträgen zur Regierungserklärung: Auf Drucksache 18/11430 hatte sie die Bundesregierung unter anderem aufgefordert, die geplante Einrichtung eines gemeinsamen Militärzentrums auf EU-Ebene zu verhindern. Der Antrag scheiterte am Votum der restlichen Fraktionen. Außerdem wandten sich die Abgeordneten gegen die geplante Erhöhung der Verteidigungsausgaben auf zwei Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukts (BIP) bis 2024. 110 Abgeordnete stimmten in namentlicher Abstimmung für diesen Entschließungsantrag (18/11429), 455 votierten dagegen.