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Europa : Gewagte Interpretation

Im Streit um die Pkw-Maut ist die EU-Kommission der Bundesregierung plötzlich weit entgegengekommen

13.03.2017
2023-08-30T12:32:17.7200Z
7 Min

Für den normalen Autofahrer ist das endlose Gezerre um die Pkw-Maut kaum noch zu verstehen. Da fordert ein bayerischer Ministerpräsident, der nicht im Verdacht steht, ein verkappter Grüner zu sein, dereinst im Wahlkampf eine Straßenbenutzungsgebühr für Autofahrer. Zugleich spricht er sich dafür aus, die Kraftfahrzeugsteuer für alle in Deutschland lebenden Autofahrer so stark abzusenken, dass sie keine Mehrkosten haben. Denn es geht ihm tatsächlich vor allem darum, ausländische Autofahrer für die Nutzung deutscher Straßen zahlen zu lassen. Schließlich zahlen die Deutschen - allen voran die Bayern - auch, wenn sie in Österreich, Italien oder Frankreich unterwegs sind.

Dass Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) dieser Idee nichts abgewinnen kann und verspricht, mit ihr werde es keine Maut geben, gehört zum politischen Spiel auf der Berliner Bühne. Zumindest setzt Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer die Maut 2013 in den Koalitionsverhandlungen durch und der von ihm nach Berlin entsandte Verkehrsminister Alexander Dobrindt (beide CSU) diese genauso um, wie von Seehofer versprochen. Nun aber wird es kompliziert. Die EU-Kommission, die ansonsten immer und überall für die Einführung von Straßenbenutzungsgebühren wirbt, erklärt die deutsche Pkw-Maut für unvereinbar mit dem EU-Recht. Europaabgeordnete der Grünen und Sozialdemokraten, ebenfalls große Maut-Anhänger, stoßen in das gleiche Horn. Und die deutschen Nachbarstaaten, allen voran Österreich, drohen mit rechtlichen Schritten, obwohl zumindest Österreich den deutschen Autofahrern selbst eine Maut abverlangt.

Auf Eis gelegt Und so wird die Maut zunächst einmal auf Eis gelegt, die Kommission leitet ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland ein, beide Seiten machen sich Vorwürfe - bis dann passenderweise kurz vor dem CSU-Parteitag im Herbst bekannt wird, dass sich Kommission und Bundesregierung geeinigt haben. Die Pkw-Maut wird geringfügig überarbeitet. Die Autofahrer mit deutschem Wohnsitz werden noch stärker entlastet, als bisher vorgesehen. Ruhe aber kehrt immer noch nicht ein. Österreich droht weiter mit einer Klage vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) und ausgerechnet der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags stuft im Februar auch die neue Maut als unvereinbar mit dem EU-Recht ein. Wer würde nach mehr als drei Jahren Streit über die Maut nicht an der EU (ver-)zweifeln?

Verstehen lässt sich all das nur, wenn man sich eines vor Augen hält: Der Streit um die deutsche Pkw-Maut hat nichts, aber auch gar nichts mit der Pkw-Maut zu tun. Hätte die Bundesregierung nur die Autofahrer für die Nutzung der deutschen Straßen zur Kasse beten wollen, hätte es nie einen Streit mit Brüssel, Straßburg und Wien gegeben. Den gab es nur, weil die CSU zugleich darauf beharrte, dass Halter von in Deutschland zugelassenen Autos nicht mehr zahlen als zuvor. Genau das aber ist ein klarer Verstoß gegen die EU-Verträge. In Artikel 18 des "Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union" ist festgeschrieben, dass "jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten" ist. Übersetzt heißt das, dass kein EU-Land jemanden nur deshalb schlechter stellen darf, weil er aus einem anderen Mitgliedsland kommt.

Das Verbot der Ausländer-Diskriminierung ist auch deshalb eines der Kernprinzipien der EU, da nicht zuletzt die Vollendung des Binnenmarkts unerreichbar wird, wenn die Mitgliedstaaten die Bürger anderer EU-Staaten anders behandeln als ihre eigenen. Entsprechend reagiert die Kommission, die als "Hüterin der Verträge" auftreten soll, sensibel, wenn Staaten dagegen verstoßen. Das gilt für die deutsche Maut ebenso wie die österreichische Quotenregelung für Medizinstudenten aus anderen Staaten. Ob die Diskriminierung direkt erfolgt, sprich EU-Ausländer gezielt schlechter gestellt werden, oder indirekt, wie bei der deutschen Pkw-Maut, ist dabei irrelevant. Das gilt umso mehr, da die Bundesregierung die Einführung der Maut für alle und die gleichzeitige Entlastung der deutschen Autofahrer durch die Senkung der Kraftfahrzeugsteuer direkt miteinander verknüpft hat. Es war schließlich das erklärte Ziel der CSU, die "Ausländer zahlen zu lassen".

Die Kommission hatte damit von Anfang an kaum Spielraum. Sie musste reagieren. "Es kann nicht sein, dass ein inländischer Autofahrer die Maut über die Steuer automatisch zurückerstattet bekommt", sagte der zuständige EU-Verkehrskommissar Siim Kallas damals.

Andererseits hat die Kommission sich in den vergangenen Jahren immer flexibel gezeigt, wenn es um grundsätzlich nachvollziehbare Ansinnen von EU-Staaten ging - oder es aus übergeordneten Gründen opportun erschien. Dafür gibt es im Falle von Österreich gleich zwei Beispiele. Das eine ist die schon erwähnte Quotenregelung für ausländische Medizinstudenten. Nach einem beinahe zehn Jahre währenden Streit genehmigte die EU-Kommission die Quotenregelung im Dezember des vergangenen Jahres aus übergeordneten Gründen. Die Regierung in Wien hatte argumentiert, ansonsten sei die medizinische Versorgung im Land auf Dauer gefährdet. Das zweite -und das hätte die deutsche Bundesregierung von Anfang an aufhorchen lassen sollen - ist die österreichische Maut. Schließlich haben die Österreicher einheimische Autofahrer bei der Einführung der Vignette 1997 auch kompensiert, über die Anhebung der Pendlerpauschale und weitere Vergünstigungen für bestimmte Strecken. Allerdings beugte sich die Regierung in Wien der Forderung, dass die Einführung des "Pickerls" zumindest mit einer begrenzten Mehrbelastung der einheimischen Autofahrer einhergehen müsse. Schon 2012 hatte die Kommission zudem Leitlinien für Mautgebühren mit dem Ziel: "Fairness für alle Fahrer gewährleisten" veröffentlicht, in denen sie eine gewisse Mehrbelastung von ausländischen Fahrern durchaus zulässt. Mautgebühren könnten demnach das Ergebnis haben, dass der Preis für Ausländer - umgerechnet auf die je Tag zu entrichtende Gebühr - zwischen dem 2,5- und 8,2-fachen des Betrags liegen kann, den ein Mitgliedstaat von Einheimischen verlangt. Kurz gesagt: Eine gewisse Ausländer-Diskriminierung hätte die Kommission von Anfang an geschluckt. Das war auch in Berlin bekannt. Schließlich war schon vor Abschluss der Koalitionsverhandlungen eine Delegation der Kommission um den Kabinettschef des damaligen Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso angereist, um der Bundesregierung aufzuzeigen, wie sie eine europarechtskonforme Pkw-Maut hinbekommen könnte.

Schon wenn die Maut für die deutschen Halter nur um 99 Prozent statt der geplanten 100 Prozent kompensiert werde, könne die Kommission beide Augen zudrücken, hieß es. Wobei der natürlich klar war, dass Dobrindt und Seehofer genau diese Eins-zu-eins-Verrechnung aus politischen Gründen brauchten. Die Kommission konnte deshalb noch so viele goldene Brücken für Berlin bauen, die Eskalation des Konflikts ließ sich nicht vermeiden. Im Gegenteil: Dobrindt drängte die sichtlich unwillige Kommission geradezu dazu, Deutschland vor dem EuGH zu verklagen. In dem Wissen, dass ein solches Verfahren nicht vor der Bundestagswahl 2017 abgeschlossen sein würde, konnte er relativ risikolos gegenüber Brüssel den starken Mann markieren.

Das vollständige Einlenken der Kommission im Herbst aber konnte auch Dobrindt nicht vorhersehen. Auch in diesem Fall muss man sich eines vor Augen halten, um die überraschende - vorläufige - Lösung des Konflikts zu verstehen: Sie hat nichts, aber auch gar nichts mit der Pkw-Maut oder der Diskriminierung von Ausländern zu tun. Es ging allein um Politik, genauer um die gesamtpolitische Lage in der EU. Angeblich - so wird es kolportiert - geht die Einigung auf ein Gespräch zwischen Merkel und Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker zurück. "Willst du die Maut?", soll er die Kanzlerin im September gefragt haben. Auf ihr "Ja" hin soll sich die Kommission auf die Suche nach einer gesichtswahrenden Lösung für beide Seiten ohne Mehrbelastung für die deutschen Autofahrer gemacht haben. Politisch plausibel ist das. Die Kommission hat kein Interesse an einem Konflikt mit Deutschland. Schließlich ist die Bundesregierung derzeit einer der wenigen Garanten für Stabilität in Europa. Verglichen damit erschien der selbsterklärten "politischen Kommission" ein Bruch des EU-Rechts weniger relevant.

Fakt ist, dass die Verhandlungen zwischen Bundesregierung und Kommission auf höchster Ebene zwischen dem Kabinettschef Junckers und Dobrindt geführt wurden. Selbst die eigentlich zuständige Verkehrskommissarin Violeta Bulc war bis zuletzt nicht eingebunden und wurde nach zuverlässigen Informationen ebenso von der Einigung überrascht wie das Europaparlament. Drei Zugeständnisse musste Dobrindt machen, damit die Kommission ihr Vertragsverletzungsverfahren auf Eis legte: Er musste zusagen, an der Entwicklung einer EU-weiten Pkw-Maut mitzuarbeiten, er musste die Preise für die Kurzzeitvignetten anders staffeln und teilweise senken, vor allem aber musste er Fahrer von abgasarmen Autos sogar über Gebühr von den Mautkosten entlasten - und damit Mindereinnahmen von 100 Millionen Euro hinnehmen. Diese Ökokomponente erlaubte die Quadratur des Kreises. Dobrindt konnte sein Versprechen halten, niemand in Deutschland werde zusätzlich belastet, und die Kommission argumentieren, es gebe keine Eins-zu-eins-Verrechnung, ergo diskriminiere die Maut auch keine Ausländer.

Flucht in die Formel Dass das eine gewagte Interpretation des EU-Rechts war, war auch der Kommission klar. Schließlich bleibt es dabei, dass nur Ausländer mehr belastet werden. Entsprechend schwer tat sich Bulc vor kurzem, die von anderen ausgehandelte Lösung vor dem EU-Parlament zu verteidigen. Sie flüchtete sich in die Formel "Solange die Maut noch nicht endgültig beschlossen ist, kann ich zur Frage, ob sie im Einklang mit dem EU-Recht steht, nichts sagen". Die deutschen Nachbarn sehen das anders. Vor allem die Österreicher treiben eine Klage vor dem EuGH voran. Ende Januar versammelten sie alle deutschen Nachbarländer sowie Ungarn, Slowenien und Großbritannien in Brüssel, um über ein gemeinsames Vorgehen zu beraten. Sie gingen zwar ohne Beschluss auseinander. Kurz darauf aber kam der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags in einem von den Grünen in Auftrag gegebenen Gutachten zu dem offensichtlichen Schluss, dass auch die neue Maut EU-Ausländer diskriminiert. Für Österreichs Verkehrsminister Jörg Leichtfried (SPÖ) war das ein Geschenk: "Dass am Ende nur Ausländer zahlen, geht gar nicht", sagte er. Dass die österreichische Regierung inzwischen vorgeschlagen hat, Inländern Vorrang bei der Arbeitsplatzsuche zu gewähren, treibt Leichtfried dabei nicht um. Auch das wäre klare Ausländer-Diskriminierung und damit ein Verstoß gegen das EU-Recht. Wer wollte sich da nicht verständnislos abwenden?

Der Autor ist EU-Korrespondent der FAZ in Brüssel.