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THEORIE : Morgens Fischer, abends Philosoph

Die Bedingungen menschlicher Arbeit in einer industrialisierten Welt beschäftigen die Geisteswissenschaften seit dem Siegeszug der Dampfmaschinen

18.04.2017
2023-08-30T12:32:19.7200Z
3 Min

Wer mit etwas Glück als Frühbucher einen 500-Kilometer-Flug preiswert reserviert hat und dann staunt, dass ein Parfüm-Flakon mit einem Inhalt von 50-Millilitern im Duty-Free-Shop etwa das Dreifache kostet - der ist mittendrin in einem Widerspruch, den Ökonomen als "klassisches Wertparadox" bezeichnen. Der Preis für das Duftwasser scheint in keinem Verhältnis zu der für seine Kreation und Produktion aufgewandten Arbeit zu stehen. Erst recht scheint das zu gelten, wenn man allein den Verbrauch von rund 20 Liter Kerosin pro Passagier dagegen stellt und danach fragt, welcher Aufwand für Ölförderung, Raffination und Transport betrieben werden musste.

Die Bedingungen menschlicher (Lohn-)Arbeit in einer industrialisierten Welt beschäftigt Philosophen, Ökonomen und Historiker seit die Dampfmaschinen ihren Siegeszug antraten. Je nach Blickwinkel und ökonomischer Schule schauten und schauen die Denker mit ihren Modellen zum Wert eines Produktes auf den subjektiven Nutzen, die Herstellungskosten oder auf das Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage - und auch auf die menschliche Arbeit, die in diesem Produkt steckt.

Maximierung Analytiker der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, der Soziologe und Volkswirt Werner Sombart, später und heute weitaus bekannter, der Nationalökonom Joseph Schumpeter, stellen den Unternehmer ins Zentrum, der schaffend und zerstörend die wirtschaftliche Entwicklung vorantreibt und dabei nichts anderes im Blick hat als die Maximierung seines Gewinns. Schumpeter, der zentrale Ideen von Karl Marx aufgreift, stellt eine "schöpferische Zerstörung" als Kern der kapitalistischen Wirtschaftsweise heraus: In ihr sorgen "dynamische Unternehmer" fortlaufend für Innovationen. Die "schöpferische Zerstörung" reißt Bestehendes ein und schafft Neues, sie produziert Gewinner und Verlierer, aber unter dem Strich ermöglicht sie der Gesellschaft Wachstum und technischen Fortschritt.

Dieser Gedanke ist wiederum im Geist der klassischen Nationalökonomie: Ihr Begründer, der schottische Aufklärer Adam Smith, formulierte in seinem zentralen Werk "Der Wohlstand der Nationen" 1776 die These, dass das eigennützige Gewinnstreben des Einzelnen unter Wettbewerbsbedingungen - wie von unsichtbarer Hand gesteuert - zum Gesamtinteresse beitrage. An die Grenze kommt dieses Modell jedoch bereits in der Wirklichkeit des 19. Jahrhunderts - in dem sich unter Wettbewerbsbedingungen präzendenzlos Kapital und wirtschaftliche Macht in der Hand Einzelner bis hin zum Monopol sammeln konnte, während Millionen darbten.

Eine der wirkungsmächtigen Thesen zur Arbeit im Kapitalismus stammt von Max Weber: Aus der Beobachtung, dass zu seiner Zeit protestantische Gebiete in Deutschland reicher waren als katholische, schließt der Soziologe auf einen Zusammenhang zwischen Religion und Wirtschaftsentwicklung und eine "protestantische Arbeitsethik" als Triebfeder des Kapitalismus. Für Calvinisten, Puritaner, Quäker zeige sich die Gottgefälligkeit des Menschen in wirtschaftlichem Erfolg, der auf Disziplin, Sparsamkeit und Fleiß gründe. Webers Modell kann allerdings nicht erklären, warum die Industrialisierung im katholisch geprägten Oberitalien erfolgreich Fuß fassen konnte, aber nicht unbedingt im ebenso katholisch geprägten Mezzogiorno.

Lohnarbeit Für Marx, der sich mit der sogenannten Arbeitswerttheorie beschäftigte, hatte ein Produkt "nur einen Wert, weil abstrakt menschliche Arbeit in ihm vergegenständlicht oder materialisiert ist". Für den Theoretiker des Kommunismus war die Lohnarbeit bei allen zeitgenössischen Schattenseiten der Industrialisierung ein historischer Fortschritt, er nannte den Lohnarbeiter frei im doppelten Sinn: frei zwar von Produktionsmitteln, aber auch frei von feudalen Bindungen. Mag der Lohnarbeiter in der Fabrik auch schuften wie ein Knecht, er schuftet auf Basis eines kündbaren Vertrages. Das ist eine Grundlage, auf der die Arbeiterschaft im 19. Jahrhundert sich in Gewerkschaften, Genossenschaften und Parteien organisieren konnte. Ein zweite Eigenschaft der Lohnarbeit beschreibt Marx mit der Kategorie der "Entfremdung": Das Produkt gehört nicht demjenigen, der es erarbeitet, sondern dem Fabrikeigentümer, auch die Tätigkeit des Arbeiters sei eine fremde, nicht selbstgewählte. Erst eine klassenlosen Gesellschaft könne nach der Maxime "Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen" verfahren. Erst dann werde es jedem möglich sein, "heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden".