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EUROPA : Unsichtbare Hürden im grenzenlosen Binnenraum

Innerhalb der EU können die Menschen leben und arbeiten, wo sie wollen - doch 97 Prozent bleiben lieber zu Hause. Vor allem die Sprachbarriere schreckt ab

18.04.2017
2023-08-30T12:32:20.7200Z
4 Min

Reicher Norden, armer Süden - diese Formel scheint auch innerhalb der Europäischen Union zu gelten. Zwar schreitet die wirtschaftliche Erholung in allen EU-Staaten voran. Doch noch immer herrscht ein großes ökonomisches Ungleichgewicht.

Besonders deutlich wird das auf dem europäischen Arbeitsmarkt. Während die Arbeitslosenquote in Griechenland zuletzt immer noch erschreckende 23,1 Prozent betrug, lag sie in Deutschland - nach europäischen Standards berechnet - bei knapp vier Prozent. "Die europäische Kontinent teilt sich auf in boomende und mehr oder weniger brachliegende Arbeitsmärkte", sagt Jochen Oltmer, Osnabrücker Professor für Neueste Geschichte der Migration. Eine logische Folge des Gefälles sei die Migration. "Gerade Bulgarien und Rumänien", konstatiert Oltmer, "haben in der Vergangenheit eine nicht unerhebliche Abwanderung in andere Regionen der EU erlebt."

Voller Versprechen In den Statistiken ist dies deutlich zu sehen. Laut der europäischen Statistikbehörde Eurostat ist von den 4,7 Millionen, die 2015 in ein EU-Land gezogen sind, jeder Dritte innerhalb der Union umgezogen. Kein anderes Land war so beliebt wie Deutschland. Rund 700.000 EU-Bürger kamen in jenem Jahr hierher, meist aus Osteuropa. Das Recht auf Freizügigkeit, das für alle EU-Bürger - mit Einschränkungen für Kroaten - gilt, vereinfachte ihnen die Migration: Theoretisch können sie heute ohne gesonderte Aufenthalts- oder Arbeitserlaubnis überall in der EU leben und arbeiten.

Die Migration ist voller Versprechen - für die Menschen und für die Wirtschaft, die auf gute Arbeitskräfte angewiesen ist. Doch für die Länder, aus denen die Menschen abwandern, ist die wachsende Mobilität erst einmal kein Segen: Sie leiden vor allem unter dem "Braindrain", also der Abwanderung der jungen, gut ausgebildeten Bevölkerung ins Ausland. Beispiel Kroatien: Seit dem EU-Beitritt des jüngsten Mitgliedstaates im Jahr 2013 ist die Nettoabwanderung stark gestiegen. Die Mehrheit der Kroaten, die jährlich das Land verlassen, ist im Alter zwischen 20 und 44 Jahren. "Einige gehen zum Arbeiten, doch viele von ihnen zieht es schon zum Studium ins Ausland", sagt Holger Bonin, Arbeitsmarktforscher am Bonner Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA). Die Vereinheitlichung der Studiensysteme in der EU erleichtere diesen Schritt - bei dem es oftmals nicht bleibt. "Immer mehr junge EU-Bürger kehren nach der Ausbildung nicht in ihre Heimat zurück", sagt der Ökonom. Die Folge: eine alternde Gesellschaft, der der Nachwuchs und damit auch die Perspektive abhanden kommen.

Mittelfristig könnten diese Länder von der Abwanderung der Jungen aber auch profitieren. "Viele Menschen, die zum Arbeiten in hoch entwickelte Industriegesellschaften gegangen sind, kehren mit der Zeit wieder zurück", sagt Oltmer. Die Statistiken bestätigen dies: Offiziell zogen im Jahr 2015 fast eine Million EU-Bürger wieder in ihr Heimatland - Tendenz steigend. Als Paradebeispiel für diese Entwicklung gilt Polen. Hatten in den 1990er Jahren noch Tausende das Land Richtung Deutschland, Irland oder Großbritannien verlassen, suchen viele von ihnen heute ihr Glück wieder zu Hause. Die Gründe dafür sind auch in der fortschreitenden europäischen Integration zu finden: Mit der Osterweiterung haben große EU-Unternehmen Produktionsstandorte im (günstigeren) Ausland eröffnet. Volkswagen oder Miele sind zwei Beispiele von vielen. Zudem arbeiten die Großkonzerne eng mit ausländischen Zulieferern zusammen. "Die europäische Integration hat auch in Osteuropa neue Beschäftigungsmöglichkeiten geschaffen", bilanziert IMIS-Forscher Oltmer die Entwicklung.

Welche Früchte die Rückwanderung tragen kann, zeigt sich am Beispiel Indiens. Vor nicht allzu langer Zeit gab es dort kaum ein Hightech-Unternehmen, doch viele Inder, die einst als Informatiker oder Ingenieure im Silicon Valley gearbeitet hatten, sind mit der Zeit zurückgekehrt und haben ihr Know-How mitgebracht. Mit den entsprechenden Fachkräften vor Ort konnte sich trotz gravierender Einschränkungen wie der schlechten Infrastruktur eine florierende Hightech-Branche entwickeln. Ob die osteuropäischen Staaten auf einen derartigen Effekt hoffen können? Migrationsforscher Oltmer bezweifelt das. Im Falle Polens könne man aber schon heute sehen, dass die Rückkehrer für einen Wachstumsimpuls sorgten - und den Wohlstand dieser Länder erheblich steigern konnten.

»Relativ teuer« Für die deutsche Wirtschaft, die seit Jahren unter Fachkräftemangel leidet und aktuell mehr als eine Million unbesetzte Stellen beklagt, müsste die Arbeitnehmerfreizügigkeit eigentlich ein Segen sein. Doch in der Realität läuft es oft anders. IZA-Forscher Bonin hält grenzüberschreitende Beschäftigung auch für eine "relativ teure Angelegenheit." Trotz der offenen Grenzen hätten Wandernde das Problem, zu Hause erworbenen Fähigkeiten im Ausland nutzbar zu machen. Immer noch seien heimische Berufsqualifikationen im Ausland oft nicht anerkannt. Eine noch größere Einschränkung ist dem Forscher zufolge die Sprache. Die meisten hoch qualifizierten EU-Bürger beherrschten zwar Englisch, doch nur die wenigsten Deutsch. Allein das erschwere Fachkräften die Beschäftigungssuche.

Kennzeichnend auch für Europa sei daher immer noch die "grenzüberschreitende Immobilität", resümiert Migrationsforscher Oltmer. Er führt dies auch auf eine einfache Kosten-Nutzen-Abwägung zurück. Weil in der Fremde die Chancen oft nicht im Verhältnis zu möglichen Risiken stünden, wollten viele Menschen trotz aller ökonomischen Vorteile ihre Heimat nicht verlassen. "Es gehört immer noch viel dazu, sich auf eine andere Sprache, eine andere Kultur, ein anderes System einzustellen", sagt Oltmer. Auch zählten die privaten und sozialen Bedürfnisse oft mehr als das Geld.

So bilden Migranten immer noch die Ausnahme, trotz wirtschaftlicher Ungleichgewichte und vermeintlich perfekter Mobilität. Nur drei Prozent der Unionsbürger leben in einem anderen EU-Staat; 97 Prozent bleiben in dem Land ihrer Geburt. Daran, sagt der Osnabrücker Forscher, werde sich trotz der scheinbar optimalen Migrationsbedingungen auch künftig wenig ändern.

Die Autorin ist Wirtschaftsredakteurin der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung".