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Europa : Heikle Nachbarn

Die Beziehungen zu den postsowjetischen Staaten im Osten gestalten sich schwieriger als gedacht. Im Herbst soll ein Gipfel neuen Schwung bringen

03.07.2017
2023-08-30T12:32:24.7200Z
5 Min

Ende 2002, gut ein Jahr vor der Aufnahme von zehn mittel- und osteuropäischen Staaten in die Europäische Union (EU), entwarf der damalige EU-Kommissionspräsident Romano Prodi seine Vision für das künftige Beziehungsgeflecht zwischen der erweiterten Gemeinschaft und den östlichen und südlichen Nachbarn. "Ich wünsche mir einen ,Ring von Freunden' um die Europäische Union und ihre engsten Nachbarn herum, von Marokko bis Russland und zum Schwarzen Meer", sagte Prodi damals.

Knapp sechs Jahre später, auf dem Brüsseler EU-Gipfeltreffen im Juni 2008, wurde das Konzept der "Östlichen Partnerschaft" auf den Weg gebracht. Es war der Start für ein Projekt, das den geweckten Erwartungen bisher aber nur zum Teil gerecht werden konnte. Ende November, beim fünften, dann in Brüssel stattfindenden Gipfel zur Partnerschaft, wollen die Staats- und Regierungschefs der 28 EU-Länder und der sechs östlichen Nachbarn ihr neuen Schwung verleihen.

Damals wie heute hat es die EU mit ganz unterschiedlich ausgerichteten ehemaligen Mitgliedern der verflossenen Sowjetunion zu tun. EU-freundlich zeigen sich die Regierungen Georgiens, Moldaus und der Ukraine. Mit ihnen hat die EU weitreichende Assoziierungs- und Handelsabkommen geschlossen sowie - im Falle der Ukraine jüngst in Kraft getreten - Absprachen über den visumsfreien Reiseverkehr getroffen. Armenien und Weißrussland haben sich inzwischen der von Russland geförderten Eurasischen Wirtschaftsunion (EWU) angeschlossen. Gleichermaßen auf Distanz zu EU und EWU bleibt Aserbaidschan. Die politische Führung hält diese Strategie offenbar im Interesse der Unabhängigkeit des Landes für angebracht.

Am Ziel, sowohl die Zusammenarbeit zwischen den östlichen Nachbarn als auch deren Beziehungen zur EU zu stärken, hat sich seit 2008 nichts geändert. Auch wenn manche Bürger und Politiker in den Nachbarländern auf einen späteren EU-Beitritt hoffen, gilt für die "Östliche Partnerschaft" weiter das von Prodi 2002 formulierte Credo: "Das Ziel des Beitritts ist sicherlich der mächtigste Auslöser für Reformen, den man sich vorstellen kann. Aber warum sollte ein weniger anspruchsvolles Ziel nicht auch seine Wirkungen entfalten?"

Mit Argusaugen Russland betrachtete die "Östliche Partnerschaft" der EU von Beginn an mit Argusaugen. Die Skepsis schlug kurz vor dem im November 2013 in der litauischen Hauptstadt Vilnius veranstalteten dritten Gipfeltreffen der EU mit den sechs Partnern in offene Ablehnung um. Moskau setzte den damaligen ukrainischen und russlandfreundlichen Präsidenten Viktor Janukowitsch unter Druck, das mit der EU ausgehandelte Assoziierungsabkommen nicht zu unterzeichnen - und Janukowitsch gab nach. Während Georgier und Moldawier in Vilnius die Abkommen mit der EU paraphierten, lag die Vereinbarung mit Kiew nun auf Eis.

Die verweigerte Vertragsunterzeichnung veränderte die politischen Verhältnisse in der Ukraine sowie das Verhältnis der EU zu Russland völlig und löste heftige Demonstrationen auf dem Kiewer Maidan-Platz aus. Nach blutigen Auseinandersetzungen, bei denen mehr als 80 Menschen starben, ergriff Janukowitsch die Flucht und wurde für abgesetzt erklärt. Einen Monat später unterzeichnete die neue ukrainische Führung das Abkommen. Die EU gestand in der Hoffnung auf politische Stabilisierung einseitig Handelserleichterungen und niedrigere Zölle zu. Auf die aus EU-Sicht völkerrechtswidrige Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim und die mit Moskauer Hilfe herbeigeführte dramatische Zuspitzung in der Ostukraine reagierte die Gemeinschaft mit jüngst nochmals verlängerten politischen und wirtschaftlichen Sanktionen gegen Russland.

Obwohl die EU auf den "maßgeschneiderten" Charakter der einzelnen Abkommen verweist, stellt sich die Frage, ob die "Östliche Partnerschaft" ihren Zweck erfüllt. Das bis April 2019 laufende internationale Forschungsprogramm "EU-Strat" soll Aufschluss darüber geben, warum sie nicht zu den erwünschten Erfolgen bei der Sicherung von Frieden, Wohlstand und Stabilität geführt hat. Das von der EU geförderte und von der Freien Universität (FU) Berlin koordinierte Projekt mit elf Partnern soll zudem klären, wie die EU den politischen und wirtschaftlichen Wandel in der Nachbarschaft fördern kann.

Der bis Jahresende turnusgemäß amtierende estnische EU-Ratsvorsitz hofft, schon beim nächsten Gipfeltreffen im November konkrete Ergebnisse vorweisen zu können. Ein federführend von der EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini erarbeitetes Arbeitsprogramm nennt 20 vorrangige Vorhaben auf vier Gebieten: Wirtschaft und Handel, Stärkung der Institutionen, Energie, Verkehr und Umwelt sowie grenzüberschreitende Mobilität und Erfahrungsaustausch. "Wir sollten den Gipfel dazu nutzen, unserem gemeinsamen Projekt neue Impulse zu verleihen", sagt die estnische EU-Botschafterin Kaja Tael.

Dass der Gipfel nicht, wie sonst üblich, in Mittel- oder Osteuropa, sondern in Brüssel stattfindet, sei eine "sehr bewusste Entscheidung", erklärt Tael. "Das soll belegen, dass die Östliche Partnerschaft für die gesamte EU wichtig ist." Die Partnerschaft sei nicht gegen Moskau gerichtet, betont sie. Die östlichen Nachbarn hätten ein legitimes Interesse an engen Beziehungen zur EU und "ein Anrecht, ihre außenpolitischen Ziele zu formulieren".

Dennoch bestehen Zweifel, inwieweit eine engere Verzahnung der EU mit den östlichen Nachbarn gelingen kann. Die stellvertretende ukrainische Außenministerin Olena Zerkal sprach beim jüngsten Luxemburger Ministertreffen zur "Östlichen Partnerschaft" von zwei parallelen Prozessen. Es gelte zum einen, die Mechanismen der praktischen Zusammenarbeit - nicht zuletzt durch Stärkung der Wirtschaft - zu nutzen. Zum zweiten strebe man aber auch eine "tiefere Integration" in europäische Strukturen an. Die Frage, ob die Ukraine den EU-Beitritt beantragen werde, beantwortete Zerkal indes ausweichend: "Das ist eine Frage für unseren Präsidenten."

Haager Referendum Beantwortet haben sie die EU-Staaten explizit spätestens durch die auf niederländisches Drängen vorgenommenen Klarstellungen zum Assoziierungsvertrag mit der Ukraine. Die Regierung in Den Haag hatte sich genötigt gesehen, eine Antwort auf das konsultative Referendum im April 2016 zu geben, bei dem rund 61 Prozent der niederländischen Bürger (Beteiligung: 32 Prozent) gegen den Vertrag gestimmt hatten.

Auf dem EU-Gipfel im Dezember 2016 verabschiedeten die Staats- und Regierungschefs daraufhin eine Zusatzerklärung. Darin verdeutlichten sie insbesondere, dass sich aus dem Assoziierungsvertrag mit der Ukraine kein Anspruch auf einen EU-Beitritt herleiten lasse. Sie bestätigten ferner, dass das Abkommen weder Sicherheitsgarantien für die Ukraine enthalte noch ein Niederlassungsrecht für Arbeitnehmer in der EU begründe. Der niederländische Regierungschef Mark Rutte argumentierte, dass ein Scheitern des Deals "das größte Geschenk" für Moskau gewesen wäre.

Daraufhin stimmte auch der slowakische Regierungschef Robert Fico schließlich einer zeitlichen Ausdehnung der gegen Russland 2014 verhängten EU-Wirtschaftssanktionen um sechs Monate zu. Auch die weißrussische Regierung schien auf etwas größere Distanz zu Moskau zu gehen. So saß der autoritär regierende Präsident Alexander Lukaschenko am Verhandlungstisch, als im Februar 2015 mit Russland und der Ukraine die Minsker Vereinbarungen zur Befriedung des Konflikts im Osten des Landes getroffen wurden. Die EU entschied daraufhin - und wegen der Freilassung politischer Gefangener -, die gegen Weißrussland wegen andauernder Grundrechtsverletzungen verhängten Sanktionen zu suspendieren.

Unbequeme Fragen Das Verhältnis der EU zum Regime in Weißrussland ist dennoch nach wie vor nicht frei von Irritationen, wie auch das jüngste Luxemburger Treffen bestätigte. Außenminister Wladimir Makei erinnerte dort an die Rolle, die sein Land bei der Bekämpfung der illegalen Migration in die EU übernommen habe. Allein an der rund 1.200 Kilometer langen gemeinsamen Grenze mit der EU seien tausend Personen aufgegriffen worden. Zugleich gestand Makei zu, dass es in der Frage der Achtung von Grundrechten einen Dissenz mit der EU gebe. Er sicherte zu: "Wir sind bereit, über die unbequemen, sensiblen Fragen zu sprechen. Sollten wir die unbequemen Themen meiden wollen, werden wir niemals die Probleme lösen können, die noch in unseren Beziehungen zur Europäischen Union bestehen."

Der Autor ist Korrespondent der FAZ in Brüssel.