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BUNDESTAG : Vier Fünftel, ein Fünftel

Ringen um parlamentarische Minderheitenrechte in Zeiten der Großen Koalition

24.07.2017
2023-08-30T12:32:25.7200Z
5 Min

Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit hat sich in diesen Tagen ein Vorgang zum 100. Mal gejährt, der in der Geschichte des deutschen Parlamentarismus einen Meilenstein darstellt: Am 6. Juli 1917 gründete sich im Reichstag der "Interfraktionelle Ausschuss", in dem die Mehrheitsfraktionen der SPD und des katholischen Zentrums (ein Vorläufer der heutigen Union) gemeinsam mit Liberalen zur Erarbeitung der Friedensresolution des Parlaments vom 19. Juli 1917 zusammenfanden. Er wurde Katalysator der späten Parlamentarisierung des Kaiserreiches und Keimzelle der "Weimarer Koalition" der ersten deutschen Republik; auch lässt sich das damalige Zusammenwirken von Sozial- und Christdemokraten als erste Große Koalition in Deutschlands höchstem Parlament verstehen.

Damals ein Novum, scheint die Große Koalition 100 Jahre später schon fast ein Normalfall für die Bundesrepublik zu sein. In deren ersten fünf Jahrzehnten blieb die schwarz-rote Bundesregierung von 1966 bis 1969 noch die Ausnahme, doch den vier Bundestagswahlen dieses Jahrhunderts folgte jedes zweite Mal die "GroKo".

In einer parlamentarischen Demokratie wie der Bundesrepublik ist es indes nicht unproblematisch, wenn eine überbordende Regierungsmehrheit einer zumindest zahlenmäßig schwachen Opposition gegenübersteht. Zu deren vornehmsten Aufgaben zählt schließlich die Kontrolle des Regierungshandelns. Zwar zeichnet dafür der Bundestag insgesamt verantwortlich, doch gilt bei der die Regierung tragende Mehrheit die Neigung, öffentlichkeitswirksam über die Exekutive zu wachen, naturgemäß als weniger ausgeprägt. Auch können Große Koalitionen Aufkommen und Anwachsen außerparlamentarischer Kräfte befördern, was sich nicht nur in der Phase von 1966 bis 1969 bei der damaligen APO, der "außerparlamentarischen Opposition", beobachten ließ.

Damals standen nur 49 FDP-Abgeordnete im Bundestag 447 Parlamentariern von Union und SPD gegenüber; die Opposition im Parlament war also noch kleiner als in der jetzt ablaufenden Legislaturperiode. Aber auch die heutige Koalition mit ihren aktuell 502 Abgeordneten war in den zurückliegenden vier Jahren gegenüber 127 Linken und Grünen in erdrückend wirkender Überzahl.

Nun sind große Mehrheiten, wie Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) in der konstituierenden Sitzung des 18. Bundestages im Oktober 2013 befand, "nicht von vornherein verfassungswidrig", doch müsse die Minderheit jede Möglichkeit haben, ihre Einwände, Vorschläge und Alternativen vorzubringen, mahnte er: "Die Kultur einer parlamentarischen Demokratie kommt weniger darin zum Ausdruck, dass am Ende Mehrheiten entscheiden, sondern dass Minderheiten eigene Rechtsansprüche haben, die weder der Billigung noch der Genehmigung durch die jeweilige Mehrheit unterliegen".

Breites Instrumentarium Tatsächlich steht den Abgeordneten im Bundestag ein breites Instrumentarium zur Verfügung, um bei der Regierung auf den Busch zu klopfen: Schriftliche Fragen, Kleine Anfragen, Große Anfragen, Kontrollgremien, Klagemöglichkeiten, Untersuchungsausschüsse, das "schärfste Schwert der Opposition". Eine ganze Reihe wichtiger Rechte sind indes etwa per Grundgesetz oder Geschäftsordnung des Parlaments an Mindestquoren geknüpft. Danach braucht es beispielsweise ein Viertel aller Abgeordneten, um eine Normenkontrollklage beim Bundesverfassungsgericht zur Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen einzureichen - für eine 20-Prozent-Opposition eine zu hohe Hürde. Um die Rechte einer parlamentarischen Opposition ausüben zu können, beschrieb Petra Sitte (Linke) bei einer ersten Debatte im Februar 2014 über Lösungsvorschläge das Dilemma, müsse man "mal über ein Drittel der Abgeordneten des Bundestages verfügen, mal über ein Viertel - aktuell besteht die Opposition aber eben nur aus einem Fünftel der Abgeordneten".

Zwei Monate später beschloss das Parlament bei Enthaltung der Linken einen Kompromiss zwischen den Koalitions- und der Grünen-Fraktion (18/997), mit dem die Geschäftsordnung für die laufende Wahlperiode um einen Paragrafen zur "besonderen Anwendung von Minderheitenrechten" ergänzt wurde. Damit, freute sich Britta Haßelmann (Grüne), habe man "eine massive Verbesserung in der Situation, in der wir gerade sind, nämlich 80 Prozent Mehrheit und 20 Prozent Opposition".

Danach müssen beispielsweise Untersuchungsausschüsse oder Enquete-Kommissionen bereits auf Antrag von 120 Abgeordneten statt von einem Viertel aller Parlamentarier (derzeit 158) eingesetzt werden; die Einberufung einer Sondersitzung des Parlaments können nun gleichfalls schon 120 Abgeordnete erzwingen, während das Grundgesetz dafür ein Drittel der Bundestagsmitglieder (derzeit 210) vorsieht. Auch muss ein Ausschuss bereits dann eine öffentliche Anhörung zu Gesetzesvorlagen ansetzen, wenn dies alle Ausschussmitglieder der Opposition verlangen, und nicht erst auf Antrag eines Viertels des Gremiums; Gleiches gilt, damit sich der Verteidigungsausschuss zum Untersuchungsausschuss erklärt. Darüber hinaus wurde bei den Geldleistungen für die Fraktionen der sogenannte Oppositionszuschlag angehoben.

Forderungen der Oppositionsfraktionen nach gesetzlichen Festschreibungen hatte die Koalition nicht folgen wollten. Gemeinsame Vorlagen der Linken und der Grünen, in mehreren Gesetzen und der Geschäftsordnung die gemeinsame Ausübung der Minderheitenrechte durch die beiden Oppositionsfraktionen zu gewährleisten (18/379; 18/380), fanden keine Mehrheit, ebenso wie ein Gesetzentwurf der Linken zur Änderung des Grundgesetzes, der unter anderem der Gesamtheit der Oppositionsfraktionen die Erhebung einer Normenkontrollklage ermöglichen sollte (18/838).

Keine Verständigung wurde auch bei der Verteilung der Redezeiten erzielt. Hatte die Opposition darauf verwiesen, dass ein lebendiges Parlament das Prinzip von Rede und Gegenrede brauche, wurde ihr aus dem Koalitionslager vorgerechnet, dass sich ihre Redezeiten je nach Debattenlänge zwischen 25 und 32 Prozent bewegten, obwohl sie nur über 20 Prozent der Sitze verfüge. Im Ergebnis wurden viele Debatten über weite Strecken nur noch von Rednern der Koalition bestritten, bei einer einstündigen Aussprache blieben der Opposition 16 Minuten Redezeit.

Von ihren Rechten machte die Opposition fleißig Gebrauch, allein fünf Untersuchungsausschüsse wurden auf ihr Betreiben hin in dieser Legislaturperiode eingesetzt (siehe auch Seiten 4, 14 und 15). Andere Rechte versuchten Linke und Grüne beim Bundesverfassungsgericht einzuklagen. Mal wollten sie eine Ladung des US-Whistleblowers Edward Snowden zur Zeugenbefragung im NSA-Untersuchungsausschuss durchsetzen, mal die Herausgabe der NSA-Selektorenliste durch die Bundesregierung an den Ausschuss. Beides scheiterte ebenso wie ein Vorstoß der Linksfraktion, die wegen der ihr verwehrten Möglichkeit etwa einer Normenkontrollklage eine Benachteiligung geltend machte. Dieses Schicksal ereilte auch den Versuch der Opposition, via Karlsruhe eine Bundestagsentscheidung über Vorlagen zur "Ehe für alle" zu erzwingen - zu der es dann in der letzten Sitzung Ende Juni auch ohne gerichtlichen Beistand kam. In anderen Fällen stärkten die Richter den Informationsanspruch des Parlaments, so zuletzt in einem vergangene Woche veröffentlichten Beschluss.

Gegensätzliches Fazit Am Ende war es aus Oppositionssicht "für den Parlamentarismus in diesem Haus eine schwierige Wahlperiode", wie es Konstantin von Notz (Grüne) in der letzten Sitzungswoche formulierte; er machte in einer von seiner Fraktion beantragten Aktuellen Stunde zu dem Thema "bei der parlamentarischen Kontrolle gerade in Zeiten der GroKo massive Probleme" aus. Für André Hahn (Linke) zeigte die Wahlperiode, "welche negativen Auswirkungen es auf die parlamentarische Arbeit hat, wenn Union und SPD alles dominieren und der Opposition kaum Luft zum Atmen lassen". Dagegen verwies Uli Grötsch (SPD) darauf, dass die Koalition "der Opposition schon ganz zu Anfang dieser Wahlperiode freiwillig Minderheitenrechte eingeräumt" habe. Und Bernhard Kaster (CDU) sah den Bundestag "so sehr von Minderheitenrechten und Oppositionsrechten geprägt wie kein anderes Parlament".