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Kandidatenaufstellung : Das Nadelöhr der Demokratie

Das Institut für Parlamentarismusforschung in Halle erforscht, wie die Parteien ihre Direktkandidaten auswählen und ihre Landeslisten aufstellen. Erste Ergebnisse…

18.09.2017
2023-08-30T12:32:27.7200Z
8 Min

Eigentlich könnte Silvia Breher schon in aller Ruhe die Kartons für ihr Büro im Bundestag packen. Die 44-Jährige tritt für die CDU als Kandidatin im Wahlkreis Cloppenburg-Vechta an - einer Hochburg der Union. Seit 1949 holt die Partei dort immer sicher das Direktmandat. Das weiß auch Breher. Auch sie gehe von einem Einzug ins Parlament aus, aber das Ergebnis soll "richtig gut" werden und bundesweit auffallen. "Deswegen engagieren wir uns auch im Wahlkampf voll bis in die letzte Sekunde", sagt die Christdemokratin. Gepackt wird später.

Breher wird aller Voraussicht nach Franz-Josef Holzenkamp nachfolgen. Holzenkamp, seit 2005 Abgeordneter, holte 2013 mit 66,3 Prozent das beste Erststimmenergebnis der Union. Eigentlich wollte der 57-Jährige erneut antreten. Doch Ende September vergangenen Jahres erklärte der agrarpolitische Sprecher seiner Fraktion überraschend, aus gesundheitlichen Gründen nicht erneut zu kandidieren. Die Union im Wahlkreis Cloppenburg-Vechta stand plötzlich ohne Kandidaten dar.

Noch am Tag von Holzenkamps Erklärung hörte Breher davon - und auch davon, dass ihr Name als mögliche Nachfolgerin genannt wurde. In den Wochen danach hätten viele Leute angerufen, um sie zur Kandidatur zu bewegen, erzählt die dreifache Mutter. Die Rechtsanwältin ist gut vernetzt in der Region. Seit 2011 ist sie Geschäftsführerin des Kreislandvolksverbandes Vechta, der Interessenvertretung der Landwirte, sowie Vorsitzende des Kreisreiterverbandes Oldenburg Münsterland Cloppenburg-Vechta. CDU-Mitglied ist sie seit Jahren und engagiert sich als Vorsitzende des Landesfachausschusses Europa.

Breher besprach sich mit ihrer Familie und entschied sich, anzutreten. Es folgten ein "paar heftige Wochen Vorwahlkampf". Drei männliche Mitbewerber machten Breher den Platz streitig. Es gab mehrere Vorstellungsrunden im Wahlkreis. Es galt, möglichst viele Parteifreunde zu überzeugen und zu mobilisieren - denn eine Urwahl sollte über die Kandidatur entscheiden.

Der Vierkampf lockte die Basis. Rund 2.500 Menschen kamen Anfang Februar in die Basketballhalle des SC Rasta Vechta, darunter 1.837 von rund 7.300 wahlberechtigten CDU-Mitgliedern. Sie habe an dem Abend ein gutes Gefühl gehabt, als sie gesehen habe, wer alles zu der Wahl gekommen sei, um sie zu unterstützen, erinnert sich Breher. "Das war ein unfassbar positives Gefühl, schon bevor das erste Wort gefallen war." Im ersten Wahlgang schrammte sie knapp an der absoluten Mehrheit vorbei, im zweiten bekam sie ein klares Votum.

Eindruck hat die CDU-Versammlung in Vechta auch auf Benjamin Höhne gemacht, den stellvertretenden Leiter des im April 2016 gegründeten Instituts für Parlamentarismusforschung (IParl) in Halle an der Saale. "Es hat mich schon überrascht, dass da in einem Wahlkreis in der Provinz an einem Freitagabend gut 2000 Parteimitglieder zusammenkommen, weil einige ja behaupten, die Parteien seien praktisch tot", sagt der Politikwissenschaftler. Und es sei kein Einzelfall gewesen. Auch in anderen Fällen hätten Parteien für ihre Kandidatenaufstellung zur anstehenden Bundestagswahl sehr stark mobilisiert.

10.000 Fragebögen Höhne hat darüber einen guten Überblick, denn das IParl hat im vergangenen Jahr ein großes Forschungsprojekt gestartet. Mehr als 40 Mitarbeiter schickte das Institut durch die Republik, um zu beobachten, wie die Parteien ihre Direktkandidaten und Landeslisten aufstellen. 166 Nominierungsveranstaltungen besuchten die Forscher insgesamt. Nun werten die Wissenschaftler Tausende Seiten Protokolle, 64 Stunden Audiomaterial, Interviews und rund 10.000 von Parteimitgliedern ausgefüllte Fragebögen aus.

Dieser Aufwand wird betrieben, um die kurze, aber komplexe Fragen zu beantworten: "Wer wählt wen wie warum aus?" So formuliert es die Leiterin des Instituts, Suzanne S. Schüttemeyer. Die Kandidatenaufstellung, so schrieb die Politikwissenschaftlerin bereits 2002, sei das "Stiefkind der deutschen Politikwissenschaft". Will heißen: Über diesen Vorgang existiert vergleichsweise wenig wissenschaftlich fundiertes und vor allem aktuelles Wissen. Dabei ist die Kandidatenaufstellung wichtig. Schüttemeyer nennt sie das "Nadelöhr der Demokratie", ergebe sich doch aus ihr das Personal in den Parlamenten und damit auch in den Regierungen.

Tatsächlich sind, bevor die Wähler ihre Kreuze machen, viele Entscheidungen über Mandate durch sichere Wahlkreise beziehungsweise Listenplätze faktisch schon gefallen. Die Wähler hätten nur eine "bedingte Wahl", sagt Höhne. Sie müssten sich im Prinzip für das Personalangebot einer Partei entscheiden und könnten daran nicht viel ändern. Darum sei es wichtig, "den Parteien genau dabei zuzuschauen, was sie eigentlich im Vorfeld machen, wenn sie diese Personalangebote erstellen", umreißt Höhne das Vorhaben.

Kungelei Wenn es um die Kandidatenaufstellung geht, wird schnell von Kungelei gesprochen. Der Politikwissenschaftler Bodo Zeuner schrieb Anfang der 1970er Jahre von einer "Oligarchisierung" der Entscheidungen. Die tatsächlichen Entscheidungen über Kandidaten für Wahlkreise und Listen fielen häufig in "kleinen Vorstandsgremien" beziehungsweise den "Spitzengremien der Parteien" - und nicht auf den für sich genommen schon nicht sehr zugänglichen Delegiertenversammlungen, die damals die Norm waren. Mit Blick auf die innerparteiliche Demokratie - die Beteiligung der Mitglieder und den Wettstreit innerhalb der Partei - war und ist das ein problematischer Befund.

Schüttemeyer und Höhne vertreten eine andere Auffassung. "Es steht auf jeden Fall besser um die gelebte Demokratie in den Parteien, als landläufig angenommen wird. Wir können feststellen, dass sehr viele Menschen an den Auswahlprozessen beteiligt sind", sagt Schüttemeyer. Ähnlich äußert sich Höhne. Der Kungelei-Vorwurf gehe häufig an der Realität vorbei, suggeriere er doch, dass ein, zwei Leute alle Fäden in der Hand hielten. Tatsächlich mischten in der Regel viel mehr Akteure mit.

Auch die vom IParl befragten Parteimitglieder scheinen insgesamt relativ zufrieden zu sein mit der Art und Weise, wie ihre Bundestagskandidaten nominiert werden: Dass es dabei demokratisch zugehe, dem stimmten bei den Grünen beispielsweise 95,2 Prozent "voll und ganz" oder "eher" zu. Ausreißer nach unten sind hier - auf hohem Niveau - die Sozialdemokraten mit 88,7 Prozent. Bei der Frage, ob die Kandidatenaufstellung transparent verlief beziehungsweise ob die Möglichkeit zur Beteiligung zufriedenstellend ist, fallen die Werte der SPD mit 74,1 Prozent (Transparenz) beziehungsweise 78,6 Prozent (Partizipation) im Vergleich ebenfalls etwas ab. Bei der CSU beispielsweise stimmten 92,7 Prozent "voll und ganz" beziehungsweise "eher" in Sachen Transparenz zu. Bei den übrigen Parteien liegen die Werte über 80 Prozent. Mit den Beteiligungsmöglichkeiten zeigten sich bei der CSU 90,5 Prozent "sehr zufrieden" beziehungsweise "zufrieden". Die anderen Parteien liegen ebenfalls über 80 Prozent, die AfD sogar bei 90,7 Prozent.

So wird gewählt Bei den kleineren Parteien - Grüne, FDP, AfD und meistens auch bei den Linken - können in der Regel alle Mitglieder im Wahlkreis bei der Nominierung von Direktkandidaten mitwirken. Diese Parteien gewinnen allerdings kaum Direktmandate. Bei der CDU überwiegt die Mitglieder-, bei der SPD die Delegiertenversammlung. Die CSU setzt nur auf Delegierte. Für Landeslistenaufstellungen sind bei den Parteien - mit Ausnahme der AfD - Delegiertenversammlungen die Regel.

Auf den Wahlkreisversammlungen nahmen bei der CDU in Schnitt 118 Menschen teil, bei der CSU rund 154 Delegierte. Bei den Sozialdemokraten wurden im Schnitt 85 abstimmungsberechtigte Personen gezählt. Die kleineren Parteien - Linke (24), Grüne (31), AfD (23) und FDP (32) - trafen sich in übersichtlicheren Runden. Diese Durchschnittswerte beziehen sich auf die zufallsbasierte Grundstichprobe aus den vom Meinungsforschungsinstitut policy matters erhobenen Daten - die CDU-Versammlung in Vechta floss darin beispielsweise nicht ein.

Bei der Listenaufstellung auf Landesebene durch Delegierte fallen die Parteigrößen weniger ins Gewicht - bei der FDP waren es im Schnitt 271 Delegierte, 132 bei den Linken. Die AfD bildet hier mit Mitgliederversammlungen mit im Schnitt 311 Wahlberechtigten eine Ausnahme.

Ein wesentliches Merkmal einer Wahl ist, ob es überhaupt eine Auswahl gibt - das heißt: Tritt mehr als ein Kandidat an? Die Daten der IParl-Forscher, die sich auf 45 zufällig ausgewählte Wahlkreise beziehen, zeigen, dass dies in 40 Prozent der Fälle so war. Aufgrund der geringen Fallzahlen lassen sich aber nur schwer verallgemeinerbare Aussagen treffen. Zudem bildet diese Zahl nicht ab, ob im parteiinternen Vorwahlkampf mehrere Kandidaten antraten, schließlich ist die Nominierungsveranstaltung Abschluss eines längeren Verfahrens.

Mehrere Bewerber kann es vor allem dann geben, wenn ein aussichtsreiches Mandat vakant ist. Amtierende Bundestagsabgeordnete können hingegen meist darauf vertrauen, in ihrem Wahlkreis wieder aufgestellt zu werden - wenn sie ihre Hausaufgaben machen: "Wahlkreispflege ist für Abgeordnete sehr wichtig. Wer das vernünftig macht, wer sich kümmert, gewinnt zum einen ein starkes Rückgrat und Hausmacht. Zum anderen ist die Präsenz im Wahlkreis die Voraussetzung dafür, wieder aufgestellt zu werden", sagt Schüttemeyer.

Mandatsträger herausfordern In diesem Kontext zeigt die Befragung des IParl unter Parteimitgliedern einen interessanten Unterschied zwischen den Parteien: Bei den befragten Christsozialen stimmten nur 46,9 Prozent "eher" oder "voll und ganz" zu, dass es wünschenswert wäre, würden mehr fähige Parteimitglieder sich trauen, einen Mandatsträger herauszufordern. Anders ist es etwa bei den Grünen, von denen sich 84,4 Prozent so äußerten. Die Befragten bei den kleineren Parteien rechneten Herausforderern auch mehr Chancen aus: Dass eine Kandidatur gegen einen Mandatsträger aussichtslos sei, dem stimmten bei den Grünen nur 38,2 Prozent "voll und ganz" beziehungsweise "eher" zu. Bei der CSU sahen das 52,4 Prozent so.

Liste ohne Wettkampf Bei der Listenaufstellung sticht vor allem die CSU heraus: Es gab bei ihrer Kandidatenaufstellung keinen direkten Wettbewerb, kein Listenplatz war umkämpft. Anders war das bei der AfD. Hier waren laut Daten der IParl-Forscher, die sich auf 48 Landeslistenaufstellungen der Parteien insgesamt beziehen, 88,9 Prozent der Plätze umkämpft, häufig auch schon die aussichtsreichen vorderen Plätze. Bei Grünen (53,1 Prozent) und Linken (54,7 Prozent) waren es noch mehr als die Hälfte, bei der FDP mit 16,8 Prozent sowie SPD mit 4,2 Prozent und Union mit 1,1 Prozent deutlich weniger.

Die Aufstellungen der Listen seien "ultra-komplexe Angelegenheiten", sagt Höhne. Die Parteien würden versuchen, verschiedene, teils widerstreitende Repräsentationsvorstellungen "unter einen Hut zu bekommen". Ausgeglichen werde in erster Linie zwischen den Geschlechtern und Regionen, bei einigen Parteien zudem etwa zwischen innerparteilichen Gruppen.

Mit Blick auf umkämpfte Plätze und Kampfkandidaturen verweist Höhne zudem auf "innerparteiliche Entscheidungskulturen". Parteien, die interne Auseinandersetzungen gewohnt seien, hätten mit Wettbewerb um die besten Listenplätze weniger ein Problem. "Dagegen sieht man bei den Unionsparteien sogenannte Kampfkandidaturen nicht so gern, auch weil befürchtet wird, dass dies negativ für die Außenwirkung der Partei sei", sagt der Politikwissenschaftler.

Darauf deutet auch die IParl-Befragung hin: Bei den Christsozialen stimmten zwar eine Mehrheit der Befragten, nämlich 67,9 Prozent, "voll und ganz" beziehungsweise "eher" zu, dass Kampfkandidaturen Zeichen einer lebendigen Demokratie seien. Das sind aber deutlich weniger als bei den Grünen (95,2 Prozent) und den übrigen Parteien.

Verbundenheit wichtig Wenig überraschend: Den Befragten in den Parteien ist es mit großer Mehrheit "wichtig" oder sogar "sehr wichtig", dass ein Kandidat mit der Parteibasis verbunden ist. Bei der CSU sahen dies 97 Prozent so, bei der FDP immerhin noch 91,1 Prozent der Befragten - der niedrigste Wert. Dazu gehört auch ein längeres Engagement in der Partei. Dass eine jahrelange Bewährung - die "Ochsentour" - ein Schlüssel zum Nominierungserfolg sei, dem stimmten "voll und ganz" beziehungsweise "eher" 75,5 Prozent der befragten CSUler zu. Den niedrigsten Wert verzeichneten in dieser Kategorie die Grünen mit 60,6 Prozent.

Das IParl-Team erhofft sich aus ihrer Forschung noch viele weitere Erkenntnisse, etwa zu den Motiven bei der Kandidatenaufstellung. Ziel ist zunächst eine umfassende Bestandsaufnahme der Kandidatenaufstellung. "In einem zweiten Schritt kann dann darüber nachgedacht werden, wie Verfahren besser gestaltet werden können", sagt Schüttemeyer. Mit ihren Ergebnissen wollen sich die Forscher in den nächsten Monaten der Fachöffentlichkeit stellen.

Dass die Art und Weise, wie die Parteien ihre Kandidaten aufstellen, eine Wirkung hat, zeigt auch das Beispiel aus Cloppenburg-Vechta. Mit der Urwahl ist CDU-Kandidatin Breher nicht nur wegen des für sie positiven Ergebnisses sehr zufrieden: "Das ist einfach nur zu empfehlen für den Zusammenhalt und die Mobilisation innerhalb der Partei", sagt die Kandidatin. Sören Christian Reimer