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WAHLKAMPF 2017 : Ohne Ecken und Kanten

Statt harter Debatten dominiert großkoalitionäre Einigkeit

18.09.2017
2023-08-30T12:32:27.7200Z
6 Min

Nein, die Favoritin im Kampf um das Kanzleramt vermisst nichts in der wichtigsten politischen Auseinandersetzung dieses Jahres, jedenfalls keine Spannung. "Für mich ist dieser Wahlkampf nicht langweilig", versicherte Angela Merkel (CDU) in ihrer Sommerpressekonferenz.

Mit ihrem Urteil steht sie ziemlich alleine da. Meist fällt der Befund anders aus. "Einschläfernd langweilig" sei der Wahlkampf, heißt es da, von einem "Trauerspiel" ist die Rede, die Demokratie liege "im Dornröschenschlaf". Das Magazin "Foreign Policy" urteilte, die Kanzlerin habe Berlin in einen "Leitstern der Stabilität" verwandelt, allerdings um den Preis, dass sie "jegliche Ansätze einer Debatte trockengelegt hat".

In Umfragen liegen Merkel und ihre Union rund 15 Prozent vor der SPD ihres Herausforderers Martin Schulz. Weshalb viele Beobachter ein Ergebnis schon für ausgemacht halten: "'Mutti' bleibt", konstatierte die "Neue Zürcher Zeitung": Schon seit Monaten stehe fest, "dass der Kanzler wieder eine Kanzlerin sein wird: Angela Merkel".

Weil dieses Urteil auch in Deutschland verbreitet ist, rücken nun andere Fragen in den Mittelpunkt des Interesses: Welche der vier kleinen Parteien, die aller Voraussicht nach in den Bundestag einziehen werden, wird vorne liegen? FDP, AfD, Linkspartei oder Grüne? Welcher der potenziellen Regierungspartner der Union für den Fall, dass die Fortsetzung der großen Koalition vermieden werden kann, wird sich durch eine hohe Zahl von Abgeordneten als Koalitionär empfehlen? Werden die Ökologen einer künftigen Bundesregierung Impulse geben oder die Freunde der freien Marktwirtschaft - oder am Ende beide in einer Jamaika-Koalition? Und was passiert, wenn die AfD drittstärkste Kraft im Bundestag wird? Holt Deutschland mit dem Einzug der Abschottungs-Befürworter ins nationale Parlament nur nach, was in anderen europäischen Ländern längst Normalität ist? Oder werden die Rechtspopulisten mit Grenzüberschreitungen und Attacken auf einen verantwortungsvollen Umgang mit der NS-Geschichte die Debattenkultur im Bundestag und in der ganzen Republik mit Macht beschädigen?

Einigkeit Der Kampf ums Kanzleramt aber verspricht nur noch wenig Spannung. Selbst das TV-Duell, auf das die SPD so große Hoffnungen gesetzt hatte, hat keine neue Ausgangslage geschaffen. Statt eines fulminanten Auftakts zum heißen Kampf in der Schlussphase erlebten 20 Millionen Zuschauer vor allem großkoalitionäre Einigkeit. "Der Höhepunkt des Wahlkampfs war der Tiefpunkt der Debattenkultur", klagte die "Süddeutsche Zeitung".

Womöglich hat sich Angela Merkel den Kampf des Wahljahres 2017 im vergangenen Jahr selbst härter vorgestellt, als sie ihn heute erlebt. Als sie im November 2016 ihre erneute Kandidatur ankündigte, klang das dramatisch: "Diese Wahl wird wie keine zuvor seit der Deutschen Einheit schwierig", sagte sie damals. Sie stelle sich auf Anfechtungen von links wie von rechts ein. Damals lag ein Jahr hinter ihr, in dem sie mit ihrer Flüchtlingspolitik ihre eigene Partei, viele Deutsche und viele EU-Partner verstört hatte.

Was ist kurz vor dem 24. September geblieben von jener Dramatik, die Merkel damals erwartete - sieht man von den Pöbeleien und Anfeindungen ab, mit der die CDU-Chefin sich vor allem bei ihren Auftritten in den neuen Ländern konfrontiert sieht? Die Ausgangslage hat sich dramatisch geändert.

Merkels Union war damals in der Flüchtlingsfrage gespalten, die CSU widersetzte sich offen ihrem Kurs. Die Differenzen in der Sache - Stichwort Obergrenze - sind noch immer nicht ausgeräumt, doch die bayerische Schwesterpartei bekennt sich angesichts der Machtfrage vom 24. September nun zu ihrer Kanzlerin.

Die SPD hatte ihren Kandidaten zum Zeitpunkt von Merkels Ankündigung noch gar nicht nominiert. Erst im Januar schuf Sigmar Gabriels Überraschungscoup dann Fakten. Und mit dem "Schulz-Hype" gerieten die Union und Merkel schwer unter Druck.

Im Rückblick auf das kurze Wahljahr 2017 erscheinen die wenigen Wochen, in denen der Mann aus Würselen den tiefen Boden der SPD-Werte hinter sich ließ und gegenüber der Union aufholte, wie eine Sternstunde der politischen Kultur. Plötzlich blies wieder frischer Wind durch die Republik. Von einem Moment auf den anderen schien auch Dauerkanzlerin Merkel, die damals elf Jahre regierte, gefährdet und ersetzbar.

Allein diese Erwartung mobilisierte eine ungeheure politische Energie, schuf eine neue Dynamik: Während die SPD Tausende neue Mitglieder gewann, wurden die Fragen an Merkel und ihre Union härter. Man kann ohne Übertreibung sagen: Es war ein großer Moment im politischen Jahr 2017. Die Möglichkeit des Machtwechsels an der Spitze der Regierung, das Kernversprechen der Demokratie, hier schien sie für kurze Zeit real.

Wer das ausspricht, fällt zugleich ein Urteil über den Wahlkampf, der nach dem Zusammenbruch des "Schulz-Hypes" weiterging. Der ist meist fair, wenn man von kalkulierten Attacken aus den Reihen der AfD auf Politiker der Regierungskoalition oder auf politische Grundregeln der Republik absieht. Aber es fehlt ihm das Feuer, das nur lodert, wenn es um das Ganze geht. Der Hinweis auf die 47 Prozent unentschlossenen Wähler hebt diesen Befund nicht auf.

Martin Schulz mag Fehler im Wahlkampf gemacht haben, aber alleine hat er seine zeitweise guten Werte nicht ruiniert, daran hat auch die Kanzlerin ihren Anteil. Einen "Angriff auf die Demokratie" hat der Herausforderer ihr auf dem SPD-Parteitag vorgeworfen, weil sie die Auseinandersetzung in der Sache verweigere und für zentrale Probleme keine Konzepte vorlege, um damit die Menschen zu sedieren.

Der Ausdruck des SPD-Kandidaten war drastisch. Doch die These ist schon älter, wonach Merkels Strategie der Nicht-Konfrontation nicht nur der Debattenkultur, sondern der Demokratie insgesamt schade, weil erst offene Auseinandersetzung in der Sache eine begründete Entscheidung möglich mache.

Tatsächlich ist es Merkels Ziel, alle Kanten und Ecken abzuschleifen, die das gegnerische Lager mobilisieren könnten. Für diese "asymmetrische Demobilisierung" gibt es auch im Wahljahr 2017 wieder viele Beispiele, von ihrem Einschwenken auf die "Ehe für alle" vor Beginn des Wahlkampfes bis zur Aufweichung des eigenen Standpunktes im TV-Duell in dem Moment, da der SPD-Kanzlerkandidat plötzlich ein Ende der EU-Beitrittsperspektive für die Türkei forderte.

Aufstieg Merkels Kurs der Ununterscheidbarkeit, der ihre CDU dramatisch verändert hat, ist nicht der einzige Grund für den Aufstieg der AfD. Aber ohne die Preisgabe eines klar konservativen Profils durch Merkels CDU und die Grenzöffnung des Jahres 2015 wäre es wohl kaum dazu gekommen, dass am Wahltag mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit eine neue Kraft rechts neben der Union in den Bundestag einziehen wird.

Die Amtsinhaberin verlässt sich ganz auf das Vertrauen, das sie aufgebaut hat. Rings um sich sehen die Deutschen viele Krisen, aber die deutsche Wirtschaft boomt. Eine große Mehrheit gibt an, dass es ihr heute gut geht. Doch da ist der US-Präsident Donald Trump, da ist Russlands aggressive Politik, der Vormarsch der Rechtspopulisten in Europa, Erdogans Dauerprovokationen, der gefährliche Konflikt um Nordkoreas Atombomben. Das alles bildet ein Setting, in dem Merkel im Wahlkampf ihre Stärken ausspielen kann. Die CDU plakatiert ihr Porträt mit dem Versprechen: "Klug. Besonnen. Entschieden. Damit unser Land auf dem Erfolgsweg bleibt."

Angesichts der vielen Krisen hätten die Deutschen gelernt, dass man etwas machen müsse, aber nichts sicher sei, konstatiert der Soziologe Heinz Bude. "Der Brexit und Donald Trump haben schon ein gewisses Erschrecken ausgelöst. Die Antwort darauf lautet: Jetzt können wir nicht auch noch durchdrehen." Wer Stabilität behalten will, setzt auf das Bewährte.

Die Warnung des SPD-Kandidaten lautet dagegen: "Sich ausruhen auf Erfolgen, reicht nicht." Er hat Defizite der Republik in der Bildungspolitik, bei Zukunftsinvestitionen, Familienpolitik und Digitalisierung aufgelistet, die er zu beheben verspricht, um künftigen Wohlstand zu garantieren. In einer Zeit der Verunsicherung fordert Schulz von den Wählern einen politischen Aufbruch: Bewegt euch, sonst fallen wir zurück. Doch in der Gesellschaft stößt sein Appell auf zu wenig Resonanz.

Eine kluge Beobachterin hat kürzlich an einen chinesischen Fluch erinnert, der heißt: "Mögest du in interessanten Zeiten leben!" Die Langeweile des deutschen Wahlkampfes sei in Wirklichkeit ein Zeichen jener Stabilität, um die andere Länder die Deutschen beneideten, meinte sie. Der Gedanke ist nicht falsch. Doch weniger Konsenspolitik hätte die politische Mitte in Deutschland attraktiver gemacht. Und die Lebendigkeit der Demokratie ist auch ein Garant dafür, dass sie attraktiv bleibt.

Der Autor ist Redakteur des "Tagesspiegels" in Berlin.