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Wahlrecht : Bewährungsprobe nicht bestanden

Die klassischen Überhangmandate für die schrumpfenden Volksparteien haben 111 Zusatzmandate erzeugt. Eine aufgeschobene Reform ist jetzt dringend nötig

02.10.2017
2023-08-30T12:32:27.7200Z
4 Min

Der Einzug von sechs statt bisher vier Fraktionen, die Notwendigkeit, die AfD-Fraktion im Plenarsaal zu platzieren und die Vergrößerung des Bundestags um 111 Abgeordnete mitsamt Mitarbeitern dürften den Innenarchitekten der Berliner Parlamentsgebäude in den nächsten Wochen einiges Kopfzerbrechen bereiten. Zumindest das letztgenannte Problem wäre vermeidbar gewesen, hätte es der Gesetzgeber nicht versäumt, das Wahlrecht in der abgelaufenen Legislaturperiode rechtzeitig zu reformieren. Denn mit den sich verändernden parteipolitischen Kräfteverhältnissen war spätestens seit der Flüchtlingskrise Ende 2015 absehbar, dass das seit 2013 geltende Wahlrecht eine starke Vergrößerung des Parlaments nach sich ziehen würde.

Lammerts Notwehr 2013 hatte sich die Vergrößerung mit 33 zusätzlichen Mandaten noch in Grenzen gehalten. Der öffentliche Druck auf die Parteien, die von Parlamentspräsident Norbert Lammert (CDU) bereits in seiner Eröffnungsrede angemahnte Reform anzugehen, blieb deshalb gering. Als sich das Problem zu Beginn des Wahljahres immer deutlicher abzeichnete, tat Lammert einen ungewöhnlichen Schritt. Um die Fraktionen zum Handeln zu bewegen, legte er in einer Art Notwehr (und ohne sich mit seinen Stellvertretern im Präsidium abzustimmen) selber einen Gesetzentwurf vor, der den Ausgleich bei 630 Abgeordneten "deckeln" sollte. Weil sein gut gemeinter Vorschlag hinter den 2013 gefundenen Konsens einer vollständigen Ausgleichslösung zurückfiel, war jedoch von vornherein klar, dass er bei den vom Ausgleich profitierenden Parteien (das heißt in der derzeitigen Konstellation des Parteiensystems: allen Parteien außer der Union) keine Zustimmung finden würde.

Ging die Vergrößerung 2013 vor allem auf die niedrige Wahlbeteiligung und den hohen Anteil nicht berücksichtigter Stimmen im Bundesland Bayern zurück, die in Verbindung mit dem bundesweit geringen Mandatsanteil der CSU für einen besonders großen Ausgleichsbedarf sorgten, war sie diesmal hauptsächlich den "klassischen" Überhangmandaten geschuldet. Die Anzahl der von den Unionsparteien und der SPD gewonnen Wahlkreise blieb im Vergleich zu 2013 nahezu konstant (231 für CDU und CSU zu 59 für die SPD gegenüber 236 zu 58). Ihnen standen durch die herben Verluste beider Parteien (8,6 Prozentpunkte bei der Union und 5,2 Prozentpunkte bei der SPD) diesmal aber deutlich geringere Zweitstimmenanteile gegenüber. Dies führte zu 36 Zusatzmandaten für die CDU auf der ersten Verrechnungsstufe, die über den Ausgleichmechanismus am Ende die Gesamtzahl von 709 Mandaten bewirkten. Dass eine so starke Vergrößerung des Bundestages schwerlich legitimierbar ist, dürfte auf der Hand liegen. Dabei geht es nicht primär um die ärgerlichen Mehrkosten oder um mögliche Beeinträchtigungen seiner Funktionsfähigkeit. Vielmehr ist grundsätzlich fragwürdig, warum ein Parlament, dessen reguläre Größe vom Gesetzgeber auf 598 Abgeordnete festgelegt worden ist, je nach Zufall des Wahlergebnisses auf 631 oder 709 Abgeordnete "anschwellen" sollte. International gibt es dafür kein vergleichbares Beispiel. Problematisch ist vor allem, dass die zusätzlichen Mandate den Sanktionscharakter einer Wahl unterminieren, wenn sich Stimmenverluste und -gewinne nicht in entsprechenden Mandatsverlusten und -gewinnen niederschlagen.

Der designierte Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) wäre gut beraten, die Mahnung seines Vorgängers jetzt noch eindringlicher zu wiederholen und die Wahlrechtsreform auf die Agenda zu setzen. Je nach Reichweite kommen dabei drei Optionen in Frage. Eine große Reform könnte neben den Überhang- und Ausgleichsmandaten weitere Schwachstellen des Wahlsystems in den Blick nehmen wie etwa die Intransparenz des Zweistimmensystems, dessen Funktionslogik weiterhin von einem erheblichen Teil der Wähler nicht verstanden wird. Auch Fragen der Wahlberechtigung wären in diesem Zusammenhang zu behandeln (Ausschluss unter Betreuung stehender Menschen, Absenkung des aktiven Wahlalters auf 16). Eine mittlere Reform müsste versuchen, das Problem an der Wurzel zu packen, also erreichen, dass Überhangmandate gar nicht erst entstehen. Als Lösungen kämen hier zum Beispiel eine Reduktion des Anteils der Direktmandate auf etwa ein Drittel oder die Umwandlung der heutigen Einerwahlkreise in eine halb so große Zahl von Zweierwahlkreisen in Betracht. Die letztgenannte Lösung hätte gegenüber der erstgenannten den Vorteil, dass sie die Zahl der direkt gewählten Abgeordneten nicht vermindern würde.

Nicht überhöhen Andererseits sollte man die Bedeutung der direkt gewählten Abgeordneten auch nicht zu sehr überhöhen, da die Listenkandidaten ebenfalls eine territoriale Basis haben und die Pflege ihrer Wahlkreise betreiben. Kann man sich auf eine grundlegende Neuordnung der Wahlkreise nicht verständigen, sollte zumindest eine kleine Lösung angestrebt werden, die den Vergrößerungseffekt durch ein anderes Ausgleichverfahren begrenzt, ohne am Prinzip des vollständigen Ausgleichs selbst zu rütteln. Auch hier liegen gangbare Vorschläge schon seit langem auf dem Tisch. Dass das Wahlrechtsproblem in den öffentlichen Kommentierungen vom Ausgang der Wahl überlagert wurde und praktisch keine Rolle gespielt hat, war nicht überraschend. Es wäre jedoch ein Fehler, wenn der Bundestag die ausgebliebene Erregung zum Anlass nehmen würde, das Thema erneut schleifen zu lassen, statt die Reform jetzt beherzt anzugehen.