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Friedensforschung : »Eine Krise des Zusammenhalts«

Nicole Deitelhoff über die Stabilität von Normen und die Notwendigkeit des lebendigen Streits

09.04.2018
2023-08-30T12:34:27.7200Z
8 Min

Der Nahe Osten steht in Flammen, Russland provoziert an den EU-Außengrenzen und Kim-Jong Un will die Bombe. Frau Deitelhoff, müssen wir uns Sorgen machen?

Wir müssen uns immer Sorgen machen. Krisen und Konflikte gibt es immer. Gewisse Krisen sind aber tatsächlich bedrohlicher geworden. Dass wir uns mit Blick auf Nordkorea am Rande einer nuklearen Auseinandersetzung befinden, gehört dazu. Oder auch das Kalte-Krieg-Säbelrasseln zwischen Russland und den USA und deren Aufrüstung der nuklearen Arsenale. Das ist gerade für Europa eine Bedrohung, für die es noch keine überzeugenden Antworten gefunden hat. Wir befinden uns aber auch in einer gefühlten Zeit der multiplen Krisen.

Was meinen Sie damit?

Angefangen hat das mit der großen Finanz- und Schuldenkrise der 2000er Jahre und hat danach kaum noch abgenommen. Allenthalben scheint aktuell der Populismus an Kraft zu gewinnen und unsere Demokratien in die Krise zu stürzen. Den Brexit hätte man sich vor einigen Jahren auch nicht vorstellen können. Bei den Vereinten Nationen ist der Sicherheitsrat komplett blockiert. Und auch die Welthandelsorganisation muss sich gerade fragen, was ihre Zukunft ist, wenn US-Präsident Donald Trump plötzlich wieder Handelskriege anzetteln will.

Erleben wir in dieser gefühlten Zeit der Krise das Ende der liberalen Ordnung? Schließlich werden grundlegende Normen wie das Verbot von Folter oder des Einsatzes von Chemiewaffen in Frage gestellt.

Das glaube ich nicht. Aber diese gefühlte Krise erstreckt sich auch auf liberale Werte und Normen. Gleichzeitig wird aber zu wenig darauf geschaut, ob diese gefühlte Krise tatsächlich einen Niederschlag findet - und in der Forschung sehen wir, dass es in vielen Fällen eben nicht der Fall ist. Obwohl die USA, salopp gesprochen, ihr Bestes getan haben, um die Folter-Norm kaputt zu machen, gibt es nicht mehr Folter. Die anderen Staaten haben sich vielmehr gegen die Aufweichung des Folterverbotes gewehrt. Solche Entwicklungen lassen sich in verschiedenen Bereichen beobachten. Interessant wird es dann, wenn Normen tatsächlich geschwächt werden.

Zum Beispiel?

Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) ist dafür ein guter Fall. Klare Normbrüche, etwa wenn Länder nicht mit dem IStGH kooperieren, werden nicht mehr verurteilt. Der sudanesische Präsident Umar al-Baschir, gegen den ein Haftbefehl des Gerichtshofs vorliegt, kann quasi frei durch ganz Afrika reisen. Das ist ein deutliches Zeichen dafür, dass etwas in Bewegung geraten ist.

Woran liegt das?

Im Fall von al-Baschir hatte die Afrikanische Union den UN-Sicherheitsrat darum gebeten, das Verfahren für sechs Monate aufzuhalten, um vor Ort eine Lösung zu finden. Der Sicherheitsrat reagierte darauf aber auf eine sehr eigentümliche Weise - nämlich mit Nicht-Befassung. Das Ansinnen der wichtigsten Regionalorganisation Afrikas wurde einfach ignoriert. Danach hat sich die Kritik, die zu Beginn noch konstruktiv war, radikalisiert.

Fehlt international eine Sanktionsinstanz, die im Zweifel auch mal zuschlägt?

Wir haben diese Instanz im Grunde mit dem UN-Sicherheitsrat. Der ist aber blockiert. Nun könnte man viel über Reformen reden, aber in der gegenwärtigen Großwetterlage wird da nichts passieren. Es gibt nun zwei Möglichkeiten, mit dieser Problematik umzugehen: Zum einen könnte die Generalversammlung dem Sicherheitsrat im Sinne der "Uniting for Peace"-Resolution die Arbeit abnehmen. Das ist sehr schwierig zu erreichen, aber die einzig legitimierte Alternative. Eine weniger attraktive, aber häufigere Variante sind "Koalitionen der Willigen". Das kann ein einzelner Staat sein wie die USA, aber auch größere regionale oder überregionale Koalitionen.

Wie ist denn die EU als Friedensmacht aufgestellt?

Im außen- und sicherheitspolitischen Bereich ist die EU nicht gut aufgestellt. In vielen verteidigungspolitischen Fragen gibt es eine sehr große Heterogenität, treffen doch in der EU ständige Mitglieder des Sicherheitsrates, Nuklearmächte, Nicht-Nuklearmächte, neutrale Staaten und Nato-Partner aufeinander. Ich sehe momentan nicht, wie daraus ein globaler Akteur gemacht werden kann, der mit einer Stimme spricht oder gar eine eigene Armee unterhält. Die EU ist aber sehr stark im Bereich der zivilen Konfliktprävention. Ihre große Herausforderung in Zukunft wird in der Verzahnung von militärischer Projektionsfähigkeit und Operabilität mit den Stärken in der zivilen Konfliktprävention und -bearbeitung bestehen.

Welche Rolle spielt die Bundesrepublik in diesem Kontext?

Deutschland muss insbesondere mit Frankreich den Austausch suchen. Macron hat sehr konkrete Pläne auf den Tisch gelegt, zu denen sich Deutschland noch nicht verhalten hat. Ist Deutschland bereit, über Europa als Interventionsmacht zu reden? Kann sie das aus friedenspolitischer Sicht wollen? Das ist eine von Macrons Ideen. Da müssen noch viele Hausaufgaben gemacht werden.

Die Globalisierung hatte einst als visionären Unterbau die Hoffnung, eine friedlichere Welt zu gestalten. Inzwischen wird Globalisierung häufig kritisch gesehen. Was ist passiert?

Globalisierung bedeutet grundsätzlich etwas Positives, da Verbindungen geschaffen werden, die zu mehr Wissen führen. Mehr Wissen führt häufig dazu, dass eine friedliche Koexistenz wahrscheinlicher wird. Zugleich produziert Globalisierung aber Verlierer und Gewinner. Das haben wir lange nicht beachtet beziehungsweise es wurde angenommen, dass sich diese Effekte über allgemeine Wohlstandssteigerung auffangen lassen. Das ist aber nicht passiert.

Verbunden mit der Globalisierung war das universalistische Projekt auf liberaler Basis - hat sich der Westen zu viel vorgenommen?

Was hat uns eigentlich in irgendeiner Weise zu der Idee verleiten können, dass Globalisierung auch Harmonisierung in unserem Sinne bedeuten würde? Es gab nichts in der Geschichte, was darauf hindeutete. Das heißt nicht, dass wir global nicht ein Set von substantiellen Normen und Werten erreichen können. Aber es wird auch immer gestritten werden und das muss auch so sein, denn sonst wären diese Normen und Werte faktisch tot.

Tut der Westen genug, um eigene Normen und Werte zu verbreiten?

Die Euphorie nach Ende des Kalten Krieges ist verflogen. Die Politik des militärischen Demokratieexports beispielsweise im Nahen und Mittleren Nahen Osten hatte verheerende Auswirkungen. Auch die Demokratieförderungs-Politik hat die hohen Erwartungen, die in sie gesetzt wurden, nicht erfüllen können. Größere autoritäre Systeme, insbesondere Russland, bemühen sich inzwischen hingegen um Autokratie-Export in der eigenen Nachbarschaft. Dass das so erfolgreich ist, hängt natürlich auch mit einer alten Problematik zusammen. Die liberalen Werte, die man immer mit einer Monstranz vor sich hertrug, sind teilweise im eigenen Handeln nicht umgesetzt worden. Wie soll man gegenüber anderen auf das humanitäre Völkerrecht pochen, wenn man selbst gerne gezielt mit Drohnen tötet oder foltert?

Auch innerhalb der liberalen Demokratien kriselt es gewaltig. Woran liegt das?

Wir sehen eine Krise des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Es kommt kaum noch zu Auseinandersetzungen innerhalb der Gesellschaft über gemeinsame Werte und Normen, sondern es wird nur noch innerhalb kleiner Milieus diskutiert - und diese Milieus werden sich gegenseitig fremd. Diese Fremdheit führt dann zu Ressentiments, zu Herablassungen bis hin zu Feindschaft. Das sehen wir vor allem in den USA, aber auch in Europa.

Man streitet also nicht mehr konstruktiv miteinander?

Das passiert kaum noch. Das liegt auch an der Politik, die jahrzehntelange versucht hat, den gesellschaftlichen Konflikt einzuhegen und dafür immer neue Methoden gefunden hat, wie er umgangen werden kann: Runde Tische, Sachverständigengremien, neue Formen der Bürgeranhörungen und Ähnliches sollen Konflikte auflösen, in dem sie direktere Partizipation ermöglichen und Wissen produzieren. Das hat bei vielen Bürgern, vor allem in der Unterschicht, eher zu einer Entfremdung geführt. Denn für sie ist unklar geworden, wo Politik entschieden wird. Im Parlament? In irgendwelchen Kommissionen? In Brüssel? Sie haben das Gefühl von Entscheidungen betroffen zu sein, auf die sie keinen demokratischen Einfluss mehr haben.

Ist das ein Plädoyer gegen mehr Kommissionen, mehr Gremien und mehr Beteiligung?

Solche Verfahren können aufzeigen, was es für Optionen gibt und was für Implikationen einzelne Entscheidungen haben. Aber es muss wieder deutlicher werden, was politische Entscheidungen sind. Denn natürlich können politische Gemeinwesen sich für Optionen entscheiden, selbst wenn sie teurer oder weniger effizient sind, weil es ihren Zielen als Gemeinwesen entspricht. Das ist das Wesen politischer Entscheidungen und das bedeutet auch, dass wir ständig festlegen müssen, zu wessen Gunsten und zu wessen Ungunsten wir entscheiden. Wir dürfen nicht so tun, als würden mehr Wissen und neue Partizipationsformen dieses Wesen politischer Entscheidungen verändern können.

Wie verändert sich das Reden über Frieden und Gewalt in Zeiten von Cyberkrieg und autonomen Waffen?

Eigentlich überhaupt nicht. Wenn wir über die Entmenschlichung des Krieges sprechen, dann fragen wir, wer eigentlich verantwortlich ist für die Programmierung von Maschinen oder das Drücken auf den roten Knopf und mit welchen Konsequenzen das geschieht. Aus der Perspektive der Friedens- und Konfliktforschung haben wir aber ein Expertiseproblem. Wir brauchen mehr Fachleute im Bereich der Informationswissenschaften, Informatik und bestimmter Ingenieurswissenschaften. Die können wir aber nicht so einfach akquirieren. Im Bereich der Informatik promoviert man beispielsweise nicht unter einer 100-Prozent-Stelle. Davon hat man in den Sozialwissenschaften quasi noch nie gehört. Da brauchen wir kluge Lösungen. Das bedeutet auch, dass wir wieder Sensibilität für Friedens- und Konfliktforschung erzeugen müssen. Die große Begeisterung, die es gerade bei den Physikern und in den frühen Informationswissenschaften mal gab, ist leider abgeebbt.

Ist die Friedensforschung, die Sie betreiben, eigentlich relevant? Wird sie gehört?

Die Ratschläge und Analysen des HSFK werden nachgefragt. Dafür tun wir aber auch viel. Wir übersetzen unsere Ergebnisse so, dass sie für Politik und Zivilgesellschaft handhabbar werden und nicht nur in Bibliotheken landen. Ein Beispiel dafür ist unser jährliches Friedensgutachten, das wir zusammen mit anderen Friedensforschungsinstituten herausbringen. Darin analysieren wir nicht nur aktuelle Krisen, sondern formulieren klare Empfehlungen und Forderungen an die Politik. Wir werden gehört und sind regelmäßig im Gespräch mit Ministerien und Abgeordneten in Berlin und Brüssel. Es gibt aber eine klare Linie: Wir machen keine Auftragsforschung für die Politik. Vielmehr diktieren die Probleme der Welt unsere Forschungsagenda.

Sehen Sie eigentlich eine wirkmächtige Vision einer friedlichen Welt?

Ich halte es da mit Helmut Schmidt: Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen. Wenn ich so etwas wie Visionen zum Frieden habe, sind sie eher konfliktträchtig. Ich wünsche mir lebendigen Streit um unser Gemeinwesen. Denn erst im Konflikt setzen wir uns über unsere Ziele, die gemeinsamen Institutionen und Werte auseinander. Selbst wenn ich unterliege, mache ich mir das politische System und die Normen und Werte, für das es steht, in diesem Moment zu eigen. Das ist die gesunde Grundlage einer Demokratie für Frieden. Und dann begegnet mir immer wieder auch das Königreich Bhutan. Dort wird Glück zum Staatsziel erklärt. Ich finde, das ist ein sehr interessanter Ansatz.

Das Gespräch führte Sören Christian Reimer.