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Ortstermin: Lesung über die Spätmoderne… : Wenn das Besondere normal wird

18.06.2018
2023-08-30T12:34:30.7200Z
2 Min

"Fremde, exotische Orte erkunden, authentische Erfahrungen jenseits des Alltags machen und damit einzigartig und besonders sein" - so beschreibt Kultursoziologe Andreas Reckwitz die Bewegung der "Traveller", einem Teil von dem, was er die spätmoderne Gesellschaft nennt. Das überwiegend junge Hauptstadtpublikum in der voll besetzten Bundestagsbibliothek fühlt sich angesprochen: Betretenes Herunterschauen, verschmitztes Schmunzeln, als Reckwitz weitere Reise-Angewohnheiten der "Traveller" aus seinem Buch "Die Gesellschaft der Singularitäten: Zum Strukturwandel der Moderne" vorliest.

Die Eigenheiten der spätmodernen Gesellschaft haben es dem Professor für Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt/Oder angetan: Fast ethnografisch erläuterte er die Unterschiede zwischen dem, was er "Industrielle Moderne", also die Gesellschaft der 1950er und 1960er Jahre nennt, und der Gesellschaft ab den 1980er Jahren, der sogenannten Spätmoderne, die der "Traveller". Während erstere Gesellschaft von den Kriterien des Gleichen, des Konformen, des Durchschnittlichen geprägt gewesen sei, habe in der Spätmoderne nur der Mensch eine Chance auf Anerkennung, der sich in seiner Individualität, Originalität und Attraktivität profiliere.

Reckwitz nennt die Prozesse, die hinter dieser Idee stehen, Singularisierungstendenzen: Ob von Raum (außergewöhnliche Reiseziele), Zeit (außergewöhnliche Augenblicke) oder des Einzelnen (Stichwort Performer) - es gebe einen Wandel in den Bewertungsmaßstäben der Gesellschaft, egal ob in Ökonomie, Arbeitswelt oder Lebensstil weg vom Allgemeinen hin zum Besonderen, so der Autor. Wie eine unsichtbare Hand regiere der Imperativ des Besonderen den aktuellen Zeitgeist.

Wie übersetzen sich diese Tendenzen nun ins Soziale und Politische? Mehr als jemals zuvor spiele das kulturelle Kapital eine Rolle: "Die neue Mittelklasse ist die Trägergruppe vieler Prozesse in der Spätmoderne. Sie macht ein Drittel der Gesellschaft aus", sagt Reckwitz. Dabei fielen diejenigen, die zur alten Mittelschicht gehören, hinten runter und erführen eine Deklassierung ihrer Tätigkeitsbereiche und Lebensstile.

Die neue Mittelklasse sei eine Profiteurin des Wirtschaftsliberalismus und sehr stark kulturkosmopolitisch geprägt. Auf diese Entwicklung würde gesellschaftlich mit Schließungstendenzen, wie sie in rechtspopulistischen, nationalistischen und religiös-fundamentalistischen Gruppen sichtbar werden, reagiert, analysierte Reckwitz. Diese setzten auf das Eigene, Traditionen und das Heimische - quasi als Reaktion auf die Abwertung des Provinziellen und Konformen. Verstärkt würde dies durch die Aufmerksamkeitsökonomie des Internets und die berüchtigten Filterblasen, diagnostizierte Reckwitz im Dialog mit seinem Publikum.

"Auch wir im Parlament spüren, dass die Kraft unseres rechtsstaatlichen Systems im Stresstest ist und sich die Gesellschaft immer stärker auseinander zu entwickeln scheint", sagte Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU), der die Lesung moderierte.

In dieser durch Zersplitterung gekennzeichneten Gesellschaft trete das Allgemeine und Verbindende zunehmend in den Hintergrund, sagte Reckwitz. Er sehe aber auch Tendenzen, in denen das Allgemeingültige wieder verstärkt auftrete, etwa bei sozialen Fragen und Themen wie dem bedingungslosen Grundeinkommen: "Wir sind dabei zu reagieren auf die Gesellschaft der Singularitäten. Zurück in die Zeit der Industriellen Moderne wird es aber niemals gehen", prognostizierte der Autor. Lisa Brüßler