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RUSSLAND : Alle unter Kontrolle

Die Lage der Menschenrechte ist besorgniserregend, Kritik an der Regierung zu äußern wird immer schwieriger

18.06.2018
2023-08-30T12:34:30.7200Z
5 Min

Am nördlichen Polarkreis liegt selbst im Juni noch Schnee. Dort sitzt der ukrainische Filmregisseur Oleg Senzow in einem Straflager, in Russland, mehrere tausend Kilometer von seiner Heimat Krim entfernt. Die Welt kennt die Fotos von ihm aus dem Gerichtssaal: Das Gesicht ruhig und trotzig, die Finger zu einem V geformt, dem Victory-Zeichen. Seine Cousine berichtete im Frühjahr, ihm fielen mittlerweile Zähne und Haare aus. Doch sein Wille scheint ungebrochen. Seit Mitte Mai ist Senzow im Hungerstreik. Er fordert die Freilassung von 64 ukrainischen Häftlingen in Russland. Die meisten sind der Öffentlichkeit kaum bekannt. Selbst über Aleksandr Koltschenko spricht kaum jemand, dabei wurde er 2015 gemeinsam mit Senzow verurteilt.

Senzow selbst bekam in dem Unrechtsprozess 20 Jahre Haft. Die russischen Richter befanden ihn des Terrorismus schuldig. Aus dem Käfig im Gerichtssaal heraus wandte sich Senzow damals an die russische Öffentlichkeit: "Wir hatten in der Ukraine auch eine verbrecherische Regierung, aber wir sind gegen sie auf die Straße gegangen. Am Ende haben wir gesiegt. Das gleiche wird auch bei Ihnen früher oder später passieren." Bisher sieht es nicht danach aus. Während weltweit Menschen für Senzow demonstrieren, Petitionen unterzeichnen, Solidaritätskonzerte organisieren, gingen in Moskau am vergangenen Sonntag gerade mal 2.000 bis 3.000 Aktivisten für ihn und andere politische Gefangene auf die Straße. Unerwartet geriet die Preisverleihung des russischenFilmfestivals "Kinotawr" in Sotschi am selben Abend zu einer Solidaritätsbekundung. Mehrere Redner forderten von der Bühne die Freilassung Senzows sowie des Theaterregisseurs Kirill Serebrennikow, der seit August in Moskau unter Hausarrest steht, und weiterer Künstler. Der russische Filmkritiker Viktor Matizen gestand, sichtlich nervös: "Nicht darüber zu sprechen ist genauso schwer wie darüber zu sprechen, denn ich fühle eine komplette Machtlosigkeit." Das Staatsfernsehen übertrug live. Es war einer der seltenen Momente, in denen Kritik am repressiven Staatsapparat landesweit in die russischen Fernsehstuben drang. Zuvor war Präsident Wladimir Putin bei seiner Fernsehsprechstunde gefragt worden, ob er bereit sei, Senzow gegen den in der Ukraine verhafteten Chefredakteur der russischen Staatlichen Nachrichtenagentur Ria Nowosti, Kirill Wyschinskij, auszutauschen. Er habe darüber noch nicht nachgedacht, sagte Putin.

"Agenten" Tatjana Lokschina, Vorsitzende von Human Rights Watch (HRW) in Russland, bezeichnet die Lage der Menschenrechte in Russland als "die schlimmste seit dem Ende der Sowjetunion". HRW kämpft derzeit um Ojub Titijew, den Leiter der Menschenrechtsorganisation Memorial in der russischen Teilrepublik Tschetschenien. Er wurde im Januar wegen angeblichen Drogenbesitzes verhaftet, ihm drohen bis zu zehn Jahre Haft. In Tschetschenien herrscht völlige Willkür, Regimekritiker wurden gefoltert, Menschen verschwinden. Dennoch hat die ägyptische Nationalmannschaft dort ihr WM-Quartier bezogen. HRW hat sich deshalb gemeinsam mit anderen Organisationen an die Fifa gewandt. Im Antwortbrief heißt es: "Die Führung der Fifa wird sich weiterhin persönlich in der Angelegenheit von Herrn Titijew engagieren und wir hoffen, dass in naher Zukunft eine Lösung gefunden werden kann." Bisher gibt es auch dafür keine Anzeichen.

Nach Ansicht Lokschinas geht es nicht nur um das Überleben Einzelner, sondern um die Existenz der Menschenrechtsorganisationen insgesamt. Jenseits von körperlichen Übergriffen und Strafprozessen macht ihnen das sogenannte Agenten-Gesetz zu schaffen. Nahezu alle großen russischen Menschenrechtsorganisationen sind mittlerweile in das "Register ausländischer Agenten" eingetragen und müssen ihre Publikationen entsprechend kennzeichnen. Seitdem scheuen russische Beamte den Kontakt. Kritik an der Regierung zu äußern, wird immer schwieriger. Es gibt kaum noch unabhängige Medien. Während Putins letzter Amtszeit hat der Staat die Meinungsfreiheit auch im Internet stark eingeschränkt. Sämtliche Online-Kommunikation kann nun nahezu vollständig überwacht werden. Auf der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen (Rog) liegt Russland auf Platz 148 von 180 Staaten. Auf die Straße zu gehen, um friedlich zu protestieren, ist gefährlich geworden. Am 5. Mai, dem Tag vor Putins erneuter Vereidigung, nahm die Polizei hunderte überwiegend junge Leute fest. Das Bürgerrechtsportal OWD-Info sprach sogar von mehr als 1.600 Festnahmen. Kosaken prügelten auf wehrlose Demonstranten ein. Zur Fußball-WM hat Putin weitere Sicherheitsmaßnahmen angeordnet. "Diese Ausnahmeregeln sind völlig unverhältnismäßig und widersprechen den internationalen Verpflichtungen, die Russland im Hinblick auf die Versammlungsfreiheit eingegangen ist", sagt Tatjana Lokschina. So seien nicht einmal mehr Einzelmahnwachen erlaubt.

Human Rights Watch beklagt ferner eine Einschränkung der Religionsfreiheit unter dem Deckmantel des Antiterrorkampfes. Die Zeugen Jehovas sind in Russland seit einem Jahr als "extremistische Vereinigung" verboten. Mindestens 17 Anhänger der Glaubensgruppe sind derzeit in Untersuchungshaft, darunter der Däne Dennis Christensen. Ihm wird in der Kleinstadt Orjol in Zentralrussland der Prozess gemacht, weil er an einer Versammlung der Zeugen Jehovas teilnahm. Christensen drohen bis zu zehn Jahre Haft. Das russische Analysezentrum Sowa hat in seinem Jahresbericht 2017 zudem festgestellt, dass die Behörden auch gegen Anhänger radikaler islamistischer Strömungen unverhältnismäßig vorgehen. Mitglieder der Hizb ut-tahrir zum Beispiel seien zu langen Haftstrafen verurteilt worden, obwohl sie nicht zu Gewalt aufriefen.

Menschenrechtsrat Präsident Putin beteuerte jüngst in einem Interview mit dem Österreichischen Rundfunk, Russland sei ein demokratischer Staat und bewege sich innerhalb des Verfassungsrahmens. Formal hat er mit dem Menschenrechtsrat beim Präsidenten bereits 2004 ein Gremium geschaffen, das neben Menschenrechten auch die Zivilgesellschaft insgesamt in Russland fördern soll. Der mittlerweile verstorbene russische Meinungsforscher Jurij Lewada wurde damals mit in den Rat berufen, diagnostizierte aber sogleich einen Geburtsfehler: "Zivilgesellschaft kann nicht von Regierungen, Präsidenten oder Königen organisiert werden. Geschichtlich gesehen entwickelt sie sich selbst, und zwar sehr langsam." Kritikern gilt der Menschenrechtsrat als "zahnloser Tiger". Peter Franck, Russlandexperte von Amnesty International, betont jedoch, er sei besser als nichts: "Dort sitzen einige Vertreter der unabhängigen Zivilgesellschaft. Es ist ihr letzter unmittelbarer Draht zur Macht." In Einzelfällen habe der Menschenrechtsrat erfolgreich intervenieren und Unrecht verhindern können.

Ähnlich schätzt Franck die Arbeit der Menschenrechtsbeauftragten der Russischen Föderation ein. Beobachter waren schockiert, als die Duma im Frühjahr 2016 Tatjana Moskalkowa in das Amt wählte. Die Generalmajorin der Polizei hat bereits zu Sowjetzeiten im Innenministerium gearbeitet. "Unsere russischen Partner sagen uns, dass sie in bestimmten Bereichen sehr durchsetzungsfähig ist", meint Franck. Als der oppositionelle Aktivist Ildar Dadin in einem Brief aus der Haft in Karelien von schwerer Folter durch das Gefängnispersonal berichtete, machte sich Moskalkowa persönlich auf den Weg, stattete ihm einen Besuch ab und regte die Verlegung in ein anderes Straflager an. Dadin kam zwei Monate später aufgrund eines Urteils des Obersten Gerichts frei. Ende Mai kündigte Moskalkowa einen Besuch bei dem hungerstreikenden Oleg Senzow an. Die Reise wurde wegen Hochwassers abgesagt, berichten russische Medien.

Menschenrechtler hoffen, dass Putin im Zuge der Fußball-WM Milde walten lässt. Vor den Olympischen Spielen 2014 in Sotschi kamen Michail Chodorkowskij, die Performerinnen von Pussy Riot und die internationale Besatzung des Greenpeace-Schiffs Arctic Sunrise frei. Human-Rights-Watch-Chefin Tatjana Lokschina warnt allerdings vor überzogenen Erwartungen: "Die Angriffe auf die Menschenrechte und die zivilgesellschaftlichen Organisationen sind intensiv. Uns ist schon geholfen, wenn wir nicht alles verlieren. Es ist die Zeit kleiner Siege."

Die Autorin war bis 2017 "Deutschlandradio"-Korrespondentin in Moskau.