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FALL AMRI : Weinende Mitarbeiter im »Lageso«

Ex-Senator berichtet über Berliner Chaos bei Flüchtlingsaufnahme

03.12.2018
2023-08-30T12:34:38.7200Z
3 Min

Nein, er hat sich auf diesen Auftritt nicht gesondert vorbereitet. Keine Akten gelesen, keine Sachverhalte memoriert. Er kann die Zahlen und Fakten der Jahre 2014 und 2015 ohne Punkt und Komma aus dem Kopf hersagen. Sie müssen sich ihm förmlich ins Gedächtnis gebrannt haben, seitdem damals das Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales, kurz "Lageso", wegen des nicht zu bändigenden Zustroms von Asylbewerbern bundesweit zum Gespött wurde, und er, Mario Czaja, als politisch Verantwortlicher am Pranger stand.

Der Tunesier Anis Amri, der im Dezember 2016 am Berliner Breitscheidplatz den bislang opferreichsten radikalislamischen Terroranschlag in Deutschland verübte, hatte sich im Vorjahr dreimal unter verschiedenen Namen beim Lageso als asylsuchend gemeldet. Eines seiner arabischen Pseudonyme hatte in deutscher Übersetzung "Täubchen", ein anderes "Kakerlake" gelautet. Niemand hatte es gemerkt. Das ist der Grund, weswegen der damals zuständige Sozialsenator Czaja, ein mittlerweile 43-jähriger Christdemokrat, in der vorigen Woche vor dem Untersuchungsausschuss zum Breitscheidplatz-Attentat saß.

"Ich habe fast täglich weinende Mitarbeiter im Landesamt für Gesundheit und Soziales vorgefunden, die mit dieser Situation nicht mehr klarkommen konnten", so beschrieb Czaja die Lage, in der er sich vielfach im Stich gelassen gefühlt habe. Vom Finanzsenator, der ihm bis zum Sommer 2014 die dringend benötigte Personalaufstockung verweigert habe. Von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, die sich zur Errichtung von Flüchtlingsunterkünften für nicht imstande erklärt habe. Vom Verteidigungsministerium, das er immer wieder vergebens bekniet habe, ihm eine Kaserne zu überlassen, weil seine Behörde über keine hinreichend große Liegenschaft verfügt habe, um Neuankömmlinge unter einem Dach zu registrieren und zu beherbergen.

Als er im Dezember 2011 in Amt kam, berichtete Czaja, habe Berlin im Jahr 1.000 bis 1.500 Asylbewerber aufzunehmen gehabt. Im Januar 2014 habe die Bundesregierung für das laufende Jahr einen Zuzug von 140.000 Flüchtlingen prognostiziert. Laut Königsteiner Verteilschlüssel, dem zufolge Berlin fünf Prozent aller in Deutschland ankommenden Asylbewerber unterbringen muss, waren demnach etwa 7.000 Menschen zu erwarten.

Indes sei im Sommer 2014, zu einem Zeitpunkt, als die Stadt seit Jahresanfang schon 6.000 Flüchtlinge aufgenommen und im Juli erstmals einen monatlichen Zuzug von mehr als 1.000 Asylbewerbern verzeichnet hatte, die Jahresprognose für Berlin auf die Zahl von 16.000 bis 18.000 erhöht worden. Seine Behörde habe damals die Registrierung von Flüchtlingen wegen Personalmangels für einige Tage aussetzen müssen, sagte Czaja. Im Laufe des folgenden Jahres sei dann der monatliche Zuzug auf mehr 2.000 Personen weiter angestiegen.

Zugleich sei jeglicher Kalkulationsrahmen abhanden gekommen, weil die Bundesregierung entgegen ihrer gesetzlichen Verpflichtung aufgehört habe, quartalsweise Prognosen über die zu erwartende Zahl der Zuzügler abzugeben. Erst 2016 habe sie diese Praxis wieder aufgenommen. Im Mai 2015 habe das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) die Zahl der offenen Asylanträge auf 220.000 beziffert. Im Oktober seien es bereits 760.000 gewesen: "Das führte dazu, dass wir überhaupt keinen Abfluss über das Bamf mehr hatten, sondern nur noch mit Unterbringung und Versorgung beschäftigt waren." Längst habe Berlin mehr Flüchtlinge beherbergt als laut Königsteiner Schlüssel vorgeschrieben.

Um der Raumnot Herr zu werden, habe sich die Sozialbehörde im Herbst 2014 zu einem Tabubruch entschlossen, einem Schritt, der bis dahin auch aus rechtlichen Gründen "undenkbar" gewesen wäre, sagte Czaja: Sie habe, über die Grenzen ihrer eigentlichen Zuständigkeit hinausgreifend, erstmals in eigener Regie sechs "Containerdörfer" errichtet. Ein Jahr später habe er dann "leider" 60 Turnhallen belegen müssen.

Nach Czajas Auftritt hörte der Ausschuss eine weitere Zeugin aus dem Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), die wie bereits mehrere Kollegen vor ihr betonte, die Behörde habe kaum etwas mit dem Breitscheidplatz-Attentäter zu tun gehabt: "Amri war in meiner Beschaffungseinheit zu keinem Zeitpunkt Gegenstand nachrichtendienstlicher Aufklärung", sagte die bis 2018 mit Internet-Fahndung im radikalislamischen Milieu befasste Regierungsdirektorin.