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WELTERNÄHRUNG : Hunger im Überfluss

Die Menschheit produziert mehr Essen als sie eigentlich benötigt. Trotzdem leiden Hunderte Millionen Menschen an Hunger und Mangelernährung - und ihre Zahl steigt…

26.08.2019
2023-08-30T12:36:26.7200Z
6 Min

Es ist ein vollmundiges Versprechen, mit dem die Staats- und Regierungschefs im Jahre 1974 auseinandergehen: "In zehn Jahren wird kein Mann, keine Frau und kein Kind mehr hungrig zu Bett gehen", heißt es im Abschlussdokument des ersten Welternährungsgipfels in Rom. Damals litten weltweit 920 Millionen Menschen an Hunger und Unterernährung. Heute, bald ein halbes Jahrhundert später, sind es immer noch 820 Millionen, wie der aktuelle Bericht der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) zum Stand der globalen Nahrungsmittelsicherheit zeigt. Nachdem diese Zahl über Jahre leicht rückläufig war, steigt sie seit 2014 wieder an.

An einem grundsätzlichen Mangel an Nahrung liegt das nicht. Auch bei einer Weltbevölkerung von nunmehr bald acht Milliarden ist die Menschheit in der Lage, genügend Essen zu produzieren. Die Landwirtschaft erzeugt heute etwa ein Drittel mehr Kalorien, als für die Versorgung aller Menschen rechnerisch benötigt wird. Greifbar wird dieser Überfluss an einer FAO-Schätzung, nach der mit dem heutigen Stand der Technik sogar bis zu zwölf Milliarden Menschen satt werden könnten.

Hunger hat viele Ausprägungen, nur in etwa jedem zehnten Fall ist er akut - wenn die Reserven bis zur nächsten Ernte nicht reichen oder extreme Wetterereignisse die Ernte vernichten, und Hilfe von außen nicht rechtzeitig oder nicht ausreichend eintrifft. Oder etwa dann, wenn Helfer erst gar keinen Zugang finden, wie das in Konflikt- in Kriegsgebieten wie aktuell im Jemen der Fall ist.

Häufiger ist Hunger jedoch chronisch und kommt schleichend als langwierige Unter- und als Fehlernährung. Rund zwei Milliarden Menschen leiden an Vitamin- und Mineralstoffmangel, schätzt die Weltgesundheitsorganisation WHO. Die Folgen sind gravierend, gerade für die Kleinsten: Hungern und Mangelernährung in der Kindheit, das bedeutet vielfach Wachstumsverzögerungen mit der Aussicht auf körperliche und geistige Unterentwicklung, die ein Leben lang einschränken kann.

Kleinbauern Rund drei Viertel der Hungernden weltweit leben in ländlichen Gebieten, die meisten von ihnen in Afrika südlich der Sahara sowie in Südasien, aber auch in Südamerika und in der Karibik. Mehr als die Hälfte lebt in einer Konfliktregion oder einem Land mit schwach ausgeprägter oder dysfunktionalen Staatlichkeit, schätzt die FAO. Die meisten von ihnen sind Kleinbauern, die nur kleinste Flächen in der Größe von einem bis zwei Hektar für den eigenen Bedarf bewirtschaften. Der typische von Hunger betroffene Mensch des 21. Jahrhundert ist in der Regel landlos, hat wenig bis keinen Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung, zu moderner Technik oder gar zu Krediten. Kleinbauernfamilien mit ihren überschaubaren Feldern sind im Falle von Extremwetterereignissen wie Dürren oder Überschwemmungen existenziell betroffen und sie sind andererseits, wenn sie ihre geringfügigen Überschüsse verkaufen wollen, übermäßig abhängig von teils stark schwankenden Weltmarktpreisen für Nahrung.

Ein Konzept zur Bekämpfung des Hungers auf der Welt will genau hier ansetzen: Wenn es gelingt, die etwa 400 bis 500 Millionen Kleinbauern in Entwicklungsländern zu stärken, dann ließe sich damit die Ernährungsgrundlage in den ärmeren Weltregionen stabilisieren. Die Vorschläge, wie sich das bewerkstelligen ließe, sind vielfältig - sie reichen von verbesserten Anbaumethoden und Zugang zu Aus- und Fortbildung sowie Technologietransfer, über Verbesserungen bei beim Transport und bei der Lagerung landwirtschaftlicher Produkte bis hin zu günstigen Kleinkrediten und mehr Rechtssicherheit bei Landtiteln.

Befürworter einer Stärkung der Kleinbauern führen ins Feld, dass die westlichen Industriestaaten mit dem Export ihrer Agrarüberschüsse in Entwicklungs- und Schwellenländer den globalen Hunger strukturell begünstigen würden: Gegen subventioniertes Milchpulver aus den USA in Indien und Hähnchenflügel aus der EU in Westafrika haben einheimische Produzenten keine Chance. Hinzu treten benachteiligende Effekte, etwa dann, wenn westliche Industriestaaten Biokraftstoffe fördern und damit die Konkurrenz von Teller und Tank befeuern: Auf Flächen, auf denen Getreide, Reis oder Mais als Nahrungsgrundlage angebaut werden könnten, wachsen dann womöglich Ölpflanzen für den Biodiesel. Ein weiteres gravierendes Problem ist in einer Reihe von Entwicklungs- und Schwellenländer die Vertreibung von Kleinbauern, Hirten und Indigenen aus ihren Siedlungsgebieten ("Land Grabbing"), oftmals ist dies eine Folge von Investitionen aus den Industriestaaten in Land oder in die Gewinnung von Rohstoffen. Seit Jahren stehen zudem Finanzakteure im Kreuzfeuer der Kritik, die etwa Termingeschäfte nutzen, um den Handel mit Nahrungsmitteln zum Spekulationsobjekt zu machen.

Hilfs- und Entwicklungsorganisationen wie Oxfam werden in ihrer Kritik noch grundsätzlicher: Wohlhabende Staaten würden in ihrer Entwicklungs- und Handelspolitik in Entwicklungsländern nach wie vor eine großflächige industrielle Landwirtschaft fördern, die die dortige Landbevölkerung erst in die Subsistenzwirtschaft getrieben habe und weiter treibe. Der Fokus liege weiterhin auf maximalen Erträgen, dem Export von Industriesaatgut, Düngemitteln und Pestiziden - mit allen Folgeproblemen wie Bodendegradation und Verlust der Artenvielfalt.

Doch führt angesichts einer rasant wachsenden Weltbevölkerung der Weg an einer solchen industriellen Landwirtschaft womöglich gar kein Weg vorbei? Die "Grüne Revolution" der landwirtschaftlichen Produktion in Entwicklungs- und Schwellenländern seit den 1960er Jahren hat mit der Etablierung und Verbreitung von Hochleistungssorten die Erträge massiv erhöht und Mangelernährung und Kindersterblichkeit signifikant gesenkt. Angesichts der massiven Umweltbelastung durch den starken Einsatz von Mineraldüngern und Pestiziden wird heute zunehmend und sehr kontrovers die Frage diskutiert, inwieweit die Grüne Gentechnik zu Bekämpfung des Welthungers beitragen und zugleich dafür sorgen könnte, eine wohl unausweichlich in weiten Teilen industrielle Landwirtschaft nachhaltiger zu machen. Befürworter argumentieren, dass durch Gentechnik Nutzpflanzen trocken- und hitzebeständiger gemacht werden können, höhere Erträge pro Flächeneinheit erzielt und damit den Flächendruck reduziert werden kann. Erzeugt werden könnten Nutzpflanzen, die auf Böden angebaut werden, die bisher nicht für eine landwirtschaftliche Nutzung geeignet waren. Transgene Pflanzen könnten - so die Hoffnung der Gentechnikbefürworter - den Einsatz umweltschädlicher Pestizide und Dünger in der Landwirtschaft verringern oder sogar ganz überflüssig machen, weil die Widerstandskraft gegen biotische Stressfaktoren bereits ins Erbgut eingeschleust ist. Die möglicherweise unethische Unnatürlichkeit solcher Pflanzen sei abzuwägen mit dem Wohl von Millionen heute noch unterernährten Menschen. Letztlich verfeinere die Wissenschaft nur das Instrumentarium einer Praxis, die die Menschheit seit Tausenden Jahren mit der kontrollierten Fortpflanzung und genetischen Umformung von Ackerpflanzen betreibe.

Verteilung Kritiker wenden sich allerdings gegen eine reine Ertragssteigerungslogik zur Hungerbekämpfung und verweisen darauf, dass Hunger ist nur selten ein Ergebnis der Knappheit an Nahrungsmitteln ist. Hunger sei global gesehen eben kein Produktions-, sondern ein Verteilungsproblem, argumentiert etwa "Brot für die Welt": "Menschen hungern, weil sie nicht genügend Einkommen haben, um sich Nahrungsmittel zu kaufen, oder keine ausreichenden Produktionsgrundlagen, um sie selbst zu erzeugen."

Hinzu kommen Zweifel, ob die Grüne Gentechnik auf ihrem heutigen Stand Hungernden in Entwicklungsländern überhaupt etwas zu bieten hat: Kleinbauern, denen es grundsätzlichsten Dingen mangelt, dürften weder das Know-how noch die Mittel für den Einsatz des mit großem Aufwand genmanipulierten Saatgutes haben.

Die Staatengemeinschaft der G7 hat sich zum Ziel gesetzt, 500 Millionen Menschen bis zum Jahr 2030 aus Hunger und Mangelernährung zu befreien, zu diesem Ziel haben sich auch die Vereinten Nationen bekannt. Die Beendigung des Hungers und der Mangelernährung zählt zu den international vereinbarten Entwicklungszielen der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung. Deutschland investiert jährlich rund 1,5 Milliarden Euro in die Schwerpunkte Ernährungssicherung und ländliche Entwicklung in Entwicklungsländern und trägt mit der Sonderinitiative "EINEWELT ohne Hunger" dazu bei, Ernährungssicherung und Resilienzstärkung in ausgewählten Partnerländern voranzubringen.

Sollten die ehrgeizigen Ziele tatsächlich erreicht werden, stellt sich bereits eine neue Problemkonstellation, das zeigt der Blick auf Asien: Mit wachsendem Wohlstand wächst der Fleischkonsum. Was das für die Flächennutzung bedeutet, wird in der Tatsache deutlich, dass bereit heute ein Drittel der globalen Getreideernte an Tiere verfüttert wird: Fleisch frisst Land. In Deutschland liegt der Fleischverbrauch heute bei rund 88 Kilogramm pro Kopf im Jahr (nach Abzug von Knochen und Fetten sind es rund 60 Kilogramm). Zum Vergleich: In Nigeria isst ein Mensch im Durchschnitt nur rund neun Kilogramm Fleisch im Jahr. Industriestaaten wirken wenig überzeugend, wenn sie den Ländern des Südens schnitzelkauend darlegen, warum es sich lohnt, bei tierischen Produkten Maß zu halten.