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Interview : »Die Grundrente ist ein Meilenstein«

Frauen stecken oft in Beschäftigungsverhältnissen fest, die ihnen gar nicht die Chance auf eine auskömmliche Rente bieten, sagt die Autorin Kristina Vaillant

18.11.2019
2023-08-30T12:36:30.7200Z
4 Min

Frau Vaillant, Sie haben sich ausführlich mit der Lage von Frauen auf dem Arbeitsmarkt befasst: Was ist der Hauptgrund für deren Armut im Alter?

Der Hauptgrund ist, dass sie am Arbeitsmarkt weniger erfolgreich sind als Männer. Zum einen leisten sie doppelt so viel Haus- und Sorgearbeit wie Männer und arbeiten oft in Teilzeit - noch dazu in Branchen, wo die Gehälter niedriger sind. Frauen verdienen im Durchschnitt 20 Prozent weniger als Männer. All das schlägt sich voll in der Rente nieder.

Deutschland hat mit knapp 76 Prozent eine der höchsten Frauenerwerbsquoten in Europa.

Ja, in der Generation der Babyboomer sind es sogar 80 Prozent. Aber auf der anderen Seite hat sich das Volumen der geleisteten Arbeitsstunden seit 1990 kaum verändert. Es gibt also gar nicht mehr zu verteilen. Die vielen Millionen Arbeitnehmer, die in den vergangenen 25 Jahren dazugekommen sind, waren fast alles Frauen auf Teilzeitstellen - mit 20 Stunden oder weniger pro Woche. Dabei suchen viele Frauen eine 30-Stunden-Stelle, aber diese Jobs sind oft gar nicht zu haben.

Als die Minijobs zu Beginn der 2000er Jahre eingeführt wurden, hieß es, dies könne für bisher nicht berufstätige Frauen ein Sprungbrett sein. War es das nicht?

Das, was ursprünglich als Notlösung gedacht war, hat sich mittlerweile zu einer regulären Form der Arbeit entwickelt, vor allem für Frauen. Sie erledigen mehr als 60 Prozent der knapp acht Millionen Minijobs. Drei Millionen Frauen arbeiten ausschließlich im Minijob. Aber Minijobs bieten keine berufliche Perspektive und keine Sicherheit. Frauen mit atypischen Jobs wie diesen, meist in der Dienstleistungsbranche, haben keine Lobby und auch keine gute gewerkschaftliche Vertretung. Lange hieß es, Frauen im Minijob hätten doch einen Ehemann, der sie mitversorgt. Das Argument hört man inzwischen nicht mehr.

Zwischenzeitlich wurde auch noch die "Mütterrente" eingeführt.

Sie bietet eine gewisse Kompensation. Wir haben aber das grundsätzliche Problem, dass niedrige Renten nicht hochgewertet werden. Dabei gab es in Deutschland schon einmal eine Rente nach Mindestentgeltpunkten, die genau dies gemacht hat. Sämtliche Länder der Europäischen Union haben längst solche Regelungen eingeführt. Nirgendwo wird bei niedrigen Renten das Äquivalenzprinzip, also das Prinzip, dass sich die Rente nach den eingezahlten Beiträgen richtet, so rigoros angewendet wie in Deutschland. Die Grundrente ist hier endlich ein Schritt in die richtige Richtung.

Sie kritisieren die Regeln des Rentensystems als gnadenlos. Warum?

Der Arbeitsmarkt in Deutschland ist gespalten: Es gibt entweder gut bezahlte Vollzeit-Stellen oder relativ schlecht bezahlte Teilzeitstellen, die oft befristet sind und keine Aufstiegschancen bieten. Und all diese Menschen, es sind überwiegend Frauen, haben überhaupt keine Chance, sich in dem bestehenden Rentensystem eine gute Rente zu erarbeiten. Das ist gnadenlos.

Für Ihre Recherchen haben Sie viele Frauen getroffen, denen Altersarmut droht oder die schon davon betroffen sind. Waren das vor allem Frauen, die lange aus dem Beruf ausgestiegen sind?

Es ist ein Trugschluss zu meinen, es beträfe nur jene, die wegen der Kinder zehn Jahre beruflich pausiert haben. Ich habe viele Frauen getroffen, die 30 oder 40 Jahre gearbeitet haben, immer finanziell eigenständig waren. Für sie ist es besonders bitter, im Alter zu merken, sie können nicht mehr für sich selbst sorgen. Sie sind zu Recht wütend, dass die Politik sich dieser Frage bisher so zögerlich angenommen hat.

Es gibt in vielen europäischen Ländern Modelle einer Grundrente. Welches könnte Ihrer Ansicht nach als Vorbild dienen?

Ein gutes Beispiel sind die Niederlande. Dort gibt es ein dreigliedriges Modell, wie übrigens in vielen anderen Ländern auch. Die erste Säule ist eine Art Grundrente, auf die erstmal jeder Anspruch hat und für die es auch keine Bedürftigkeitsprüfung gibt. Allerdings ist sie an die Zahl der Jahre geknüpft, die man im Land gelebt hat. Die zweite Säule ist ein beitragsbasiertes System, ähnlich dem unsrigen. Die dritte Säule ist die Betriebsrente, die in den Niederlanden mehr als 90 Prozent der Arbeitnehmer haben. Bei uns sind es weniger als 60 Prozent, wobei sehr viele Frauen keine Betriebsrente haben. Ein dreigliedriges Rentensystem wie das niederländische verbindet das Solidaritätsprinzip mit dem Leistungsprinzip. In Deutschland dominiert bisher letzteres und lässt dadurch eben viele zurück.

Die Große Koalition hat nach langer Diskussion die Grundrente für Geringverdiener beschlossen. Ist die Bedingung von 35 Beitragsjahren angemessen?

Grundsätzlich ist das ein echter Meilenstein. Aber es kann nur der Anfang sein, weitere Schritte müssen folgen. Zum einen halte ich die Beitragsjahre für sehr hoch angesetzt. Heutige Rentnerinnen kommen durchschnittlich gerade mal auf 28 Beitragsjahre. 20 oder 25 Beitragsjahre fände ich deshalb angemessener, schließlich bietet die Grundrente nur ein Existenzminimum.

Wird die Grundrente das Problem der Altersarmut mindern?

Die Grundrente ist ein Einstieg in ein anderes Rentensystem, weil sie das Äquivalenzprinzip durchbricht. Sie wird auf jeden Fall für viele heutige und zukünftige Rentnerinnen und Rentner Verbesserungen bringen. Und das nicht nur, weil sie zehn Prozent oberhalb der Grundsicherung im Alter liegt. Denn es ist eben ein Unterschied, ob ich zum Sozialamt gehe und Grundsicherung beantragen muss oder ob ich automatisch die Grundrente von der Rentenversicherung ausgezahlt bekomme. Fragwürdig finde ich allerdings, dass das Einkommen des Ehepartners angerechnet werden soll. Ich finde, es sollte eine individuelle Leistung sein, so wie auch die normale Rente unabhängig vom Partnereinkommen gezahlt wird.

Kristina Vaillant ist Wissenschaftsjournalistin und Autorin mehrerer Bücher zum Thema Rentenpolitik, unter anderem: "Die verratenen Mütter".