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KRIM : In Gefahr

Die Menschenrechtslage auf der von Russland annektierten Halbinsel bleibt auch nach der Wiederaufnahme der russischen Delegation in die Parlamentarische Versammlung…

16.03.2020
2023-08-30T12:38:14.7200Z
3 Min

Sechsspurig schiebt sich der Verkehr ins Kiewer Zentrum. Über dem Geschehen, 14 Stockwerke hoch, prangt das Bild der jungen Frau in traditioneller ukrainischer Kleidung an der Hauswand, Zeichen ukrainischer Befreiung. Ihr gleichsam gegenüber ist die Mutter Heimat. Übermächtige 102 Meter hoch mit erhobenem Schwert und Schild, ein Überbleibsel aus der Zeit, in der die Ukraine von der Sowjetunion besetzt war und die Geschicke des Landes von Moskau aus bestimmt wurden. Davon kommt die Ukraine auch fast 30 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion nicht los. Vor sechs Jahren hat Russland völkerrechtswidrig die Krim besetzt, kurz darauf einen Krieg im Osten des Landes angezettelt.

"Die Krim ist unser Haus", sagt Achtjom Tschijgos in seinem Büro schräg gegenüber der Hauswand. Er ist Abgeordneter der Werchowna Rada, des ukrainischen Parlaments, und Vize-Vorsitzender des Medschlis, der politischen Vertretung der Krimtataren. Keine Bevölkerungsgruppe leidet mehr unter der Annexion. Bereits Anfang Juli 2014, gut ein Vierteljahr danach, konnte der Medschlis nicht mehr auf der Halbinsel tagen. Knapp zwei Jahre später wurde er als "extremistische Organisation" verboten. Die muslimischen Krimtataren kritisieren die Annexion als rechtswidrig. Das ist in Russland strafbar.

Achtjom Tschijgos wurde im Januar 2015 von russischen Sicherheitskräften festgenommen und zu acht Jahren Lager verurteilt. Im Herbst 2019 kam er vorzeitig frei.

Kritiker fliehen 2017 stellten die Vereinten Nationen fest, dass die Menschenrechtsverletzungen auf der Krim nach der Annexion zugenommen haben. "Jeder, der die Ukraine unterstützt oder sie kritisiert, ist in Gefahr", sagt Julia Gorbunowa von Human Rights Watch in Moskau. "Deshalb haben die meisten der offenen Kritiker die Krim verlassen," Die ukrainische Regierung spricht von 45.000 Menschen, die der Krim in den vergangenen sechs Jahren den Rücken gekehrt hätten. Nach Angaben der ukrainischen Crimean Human Rights Group waren im Januar 2020 zudem 88 Personen aus politischen oder religiösen Gründen in Haft, 63 davon Muslime. "Viele der Gefangenen haben keinen Zugang zu Anwälten, und die Gerichtsverhandlungen sind oft nicht öffentlich", klagt Gorbunowa.

Die Krimtataren sind nicht die einzige Gruppe, die unter der russischen Herrschaft leidet. Im August 2017 blockierten Sicherheitskräfte den Zugang zur Kathedrale der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche in der Inselhauptstadt Simferopol. Mittlerweile beansprucht der Staat das Kirchengebäude für sich.

Vertreter der russischen Regierung reagieren auf Interviewanfragen zu diesem Thema nicht. Unabhängige und verlässliche Informationen über das Ausmaß der Menschenrechtsverletzungen sind auch deshalb schwer zu bekommen, weil internationale, neutrale Beobachter die Krim meiden. Es sei nicht leicht, die internationale Haltung zur Krim zu verändern, räumt der russische Duma-Abgeordnete Jurij Afonin ein. "Für uns ist wichtiger, wie die Krim-Bewohner und die Bürger der Russischen Föderation das sehen." Grobe Menschenrechtsverletzungen sieht er auf der Krim nicht, im Gegenteil: Die Krimtataren würden heute besser leben als zu ukrainischen Zeiten.

Furcht vor dem Einknicken Achtjom Tschijgos vom Medschlis sagt hingegen: "Wir hatten darauf gesetzt, dass die internationalen Institutionen an den Normen zur Sicherheit auf dem Kontinent und zum Schutz der Menschenrechte festhalten." Er fürchtet, dass die westlichen Staaten gegenüber Russland einknicken und bezieht sich auf den Umgang mit Russland im Europarat. Wegen der Annexion der Krim hatte die Parlamentarische Versammlung der russischen Delegation das Stimmrecht entzogen. Russland boykottierte die Sitzungen, zahlte keine Mitgliedsbeiträge mehr, drohte mit dem Austritt aus dem Europarat. Im Sommer 2019 gaben die Abgeordneten den Russen die Stimmen zurück, ohne dass Russland Zugeständnisse gemacht hätte.

Der CDU-Bundestagsabgeordnete Andreas Nick stimmte damals dafür. Im Europarat könne man mit hochrangigen Vertretern Russlands auch über ihnen unangenehme Themen reden. "Wir haben seit der Rückkehr eine Debatte über die Ermordung von Boris Nemzow gehabt, haben über die Situation um die Kommunalwahlen in Moskau debattiert und werden eine sehr kritische Debatte zum Thema Aufklärung Abschuss MH17 haben." Außerdem werde diskutiert, ob und unter welchen Voraussetzungen die Menschenrechtskommissarin des Europarats nach Russland und auf die Krim reisen könne.

Frithjof Schmid (Grüne) hat gegen die Rehabilitierung der russischen Delegation gestimmt. Einen positiven Effekt sieht er nicht. Die russischen Parlamentarier würden "sehr aggressiv den offiziellen russischen Standpunkt vertreten. Sie sprechen von Provokationen, wenn man das kritisiert."

"Russland ist sehr widerstandsfähig gegen internationale Kritik", meint auch Julia Gorbunowa. Um das zu verändern, müssten alle Akteure und Institutionen zusammenstehen. "Sie dürfen nicht aufhören, die Menschenrechtsverletzungen zu thematisieren", mahnt sie.

Der Autor ist freier Osteuropa-Korrespondent mit Schwerpunkt Russland und ehemalige Sowjetrepubliken.