Piwik Webtracking Image

KOLONIEN : Majestät brauchten Sonne

Im späten 19. Jahrhundert wird Deutschland zur imperialen Macht in Afrika und Asien

06.01.2020
2023-08-30T12:38:10.7200Z
5 Min

Der Außenminister triumphiert: Soeben hatte ein Landungskorps der kaiserlichen Marine die Kiautschou-Bucht besetzt - es ist der Auftakt für die Inbesitznahme an der chinesischen Ostküste. Bernhard von Bülow wendet sich in seiner Rede im Reichstag im Dezember 1897 indes nicht an China, adressiert werden vielmehr die europäischen Nachbarn. "Wir empfinden auch durchaus nicht das Bedürfnis, unsere Finger in jeden Topf zu stecken", sagte der Staatssekretär im Auswärtigen Amt und spätere Reichskanzler. Die Zeiten allerdings, wo der Deutsche dem einen seiner Nachbarn die Erde überließ, dem anderen das Meer und sich selbst den Himmel reservierte - diese Zeiten seien vorüber. "Wir wollen niemand in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne."

Das 1871 gegründete Deutsche Reich ist eine aus Sicht vieler Deutscher "zu spät gekommene Nation" im Konzert der europäischen Mächte, die seit der Entdeckung Amerikas im ausgehenden 15. Jahrhundert in wechselnden Kräfteverhältnissen weite Teile der Welt unter ihre Kuratel gestellt hatten. Im imperialen Wettlauf des 19. Jahrhunderts avanciert der Nachzügler innerhalb weniger Jahrzehnte zum flächenmäßig drittgrößten und bezogen auf die Einwohnerzahl viertgrößten Kolonialreich. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs reichen die sogenannten deutschen Schutzgebiete von Togo und Kamerun in Westafrika, Südwestafrika (heute Namibia) und Ostafrika (in den heutigen Ländern Tansania, Burundi und Ruanda) bis hin zur besagten Kiautschou-Bucht in China mit der Stadt Qingdao, nach "Deutsch-Neuguinea" und bis zu den Inseln in der "Deutschen Südsee". Die je nach Schätzung rund 12 bis 13 Millionen "Eingeborenen" sind keine deutschen Staatsbürger, sondern Schutzbefohlene des Reiches, ihnen steht eine privilegierte Minderheit von wenigen Zehntausend Deutschen als Kolonisten gegenüber.

Roter Adler Bereits im 17. Jahrhundert hatte unter Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg ein deutscher Teilstaat Schutzverträge in Übersee geschlossen - mit der Folge, dass unter anderem 1683 am Kap der Drei Spitzen (im heutigen Ghana) der rote Adler gehisst und die Kolonie Groß Friedrichsburg als eine Drehscheibe des Sklavenhandels errichtet wurde. Allerdings waren die finanziellen und militärischen Möglichkeiten der Hohenzollern für solche Unternehmungen damals zu begrenzt, die Kolonie wurde nach 35 Jahren an die niederländische Westindien-Compagnie verkauft.

Im großen Maßstab setzte deutsches Kolonialmachtstreben dann im 19. Jahrhundert mit dem "Wettlauf um Afrika" ein, den der Historiker Jürgen Osterhammel einmal als "einzigartigen Vorgang der zeitlich konzentrierten Enteignung eines Kontinents" bezeichnet hat. Bis 1914 hatten Belgien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Portugal und Spanien fast ganz Afrika unter sich aufgeteilt. Im Ringen um die vermeintlich letzten unerschlossenen Räume, Einflussgebiete, Rohstoffreserven und Absatzmärkte und in der Annahme, man eigne sich hier "Terra Nullius", also Niemandsland an, folgte die deutsche Reichsregierung ab 1884 dem britischen Vorbild und stellte überseeische Besitzungen von deutschen Kaufleuten wie dem Bremer Tabakhändler und Kolonialpionier Adolf Lüderitz unter den Schutz des Reiches.

Der damalige Reichskanzler, Otto von Bismarck, blieb freilich skeptisch: "Ihre Karte von Afrika ist ja sehr schön, aber meine Karte von Afrika liegt in Europa", notierte er in einem Brief an den von Kolonisation begeisterten Journalisten Eugen Wolf. Für Bismarck stand die Sicherung des Erreichten, die soeben errungene nationale Einheit, im Vordergrund. Das deutsche "koloniale Experiment" war für ihn allenfalls als Einrichtung von Marine-Stützpunkten und durch das Verteilen von Schutzbriefen an private Handelsgesellschaften denkbar, die rudimentäre staatliche Aufgaben übernehmen sollten. Gerade dieses Fehlen hinreichender staatlicher Strukturen konnte indes Räume exzessiver kolonialer Gewalt öffnen (siehe die Beiträge auf den folgenden Seiten 4 und 5). Mangelnde Professionalität oder fehlendes Interesse der Kolonialgesellschaften am Aufbau staatlicher Ordnung führten letztlich dazu, dass die "Schutzgebiete" direkt und formell dem Reich unterstellt wurden. Es ist das Ende von Bismarcks Versuch eines "Kolonialreichs mit beschränkter Haftung" (Rudolf von Albertini).

Einen anderen Punkt hatte der Reichskanzler allerdings hellsichtig erkannt: Ökonomisch waren die Kolonien ein Zuschussgeschäft. Der Handel mit den deutschen Kolonien blieb ein verschwindend geringer Teil des deutschen Außenhandels, die Einnahmen blieben in aller Regel unter den Kosten für Verwaltung und Unterhalt der kolonialen Besitzungen.

Auch der Wettlauf der Europäer um die Trophäe der "effektivsten" Kolonialmacht änderte wenig an dieser Bilanz. Bei der Berliner Kongokonferenz 1884/85 verständigten sich die Beteiligten darauf, dass Kolonisierung nur noch "effektiv" zulässig sein sollte, also in staatlichen Bahnen stattzufinden habe als "Mittel zur Hebung der sittlichen und materiellen Wohlfahrt der eingeborenen Völkerschaften". In den Mittelpunkt rückte die infrastrukturelle Aufwertung der Kolonien mit wissenschaftlichen und industriellen Mitteln: Eisenbahntrassen wurden gebaut, Unterseekabel verlegt, Schiffspassagen eingerichtet, Leuchttürme und Wetterstationen angelegt, das Schulwesen und die medizinische Versorgung in den Kolonien verbessert. Im Reich wurde die Kolonialverwaltung zu einem eigenständigen Ministerium aufgewertet, es entstanden Hochschulen und Forschungsstellen mit Fokus auf die Kolonien - etwa zur Untersuchung und Bekämpfung von Tropenkrankheiten.

Allerdings erreichten die Einheimischen solche Reformgedanken in den kolonialen "Mutterländern" im Wesentlichen weiterhin als Arbeitszwang, so hat es der Historiker Dirk van Laak festgehalten. Das Deutsche Reich schrieb sich auf die Fahnen, in seinen Kolonien die Sklaverei abzuschaffen. Über die Existenz von Sklaven in Ostafrika, die sich im Besitz afrikanischer oder arabischer Eliten befanden, sah man ebenso hinweg wie über den Import chinesischer Tagelöhner ("Kulis").

Hypothek Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs verlor Deutschland seine Schutzgebiete, die nun Mandatsgebiete des Völkerbundes wurden. Als demütigend empfanden es damals viele Deutsche, dass die Siegermächte ihnen die Fähigkeit zur Kolonisierung absprachen. Im März 1919 forderte die Weimarer Nationalversammlung mit breiter Mehrheit - aber ohne Folgen - die "Wiedereinsetzung Deutschlands in seine kolonialen Rechte". Die einstigen Kolonien blieben für die junge Weimarer Demokratie eine Hypothek: Eine fragwürdige Figur wie Paul von Lettow-Vorbeck, der als Kommandeur der Schutztruppe eine Blutspur in Ostafrika hinterließ, in der Einbildung, den Ersten Weltkrieg mit seiner Truppe afrikanischer Söldnern ("treue Askari") zu entscheiden, kehrte als "im Felde unbesiegt" nach Deutschland zurück und wurde zum prominenten Gesicht des deutschen Kolonial-Revisionismus. Noch 1940 gehörten dem Reichskolonialbund zwei Millionen Mitglieder an. Doch die "Lebensraum"-Pläne der Nationalsozialisten galten bereits nicht mehr Afrika und Übersee, sondern zielten vor allem auf den Osten Europas.

Für Deutschland wie für andere Kolonialmächte standen beim "Wettlauf um Afrika" und der bei der Ausdehnung nach Asien weniger eine wie auch immer gestrickte "Mission civilisatrice" im Vordergrund, es ging vor allem um Absatzmärkte, Rohstoffe, um geopolitische Präsenz. Es sei ein Irrtum, zu glauben, die Kolonialpolitik bezwecke allein die moralische und materielle Hebung fremder Volksstämme, notierte Ostafrika-Pionier Carl Peters in der "Kolonial-Politischen Korrespondenz" im Jahre 1886. "Sie soll weitblickend genug sein, um sich diese Aufgabe als ein hervorragendes Mittel zum Zweck zu stellen. Dieser ist und bleibt aber schließlich die rücksichtslose und entschlossene Bereicherung des eigenen Volkes auf anderer schwächerer Völker Unkosten."