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MISSION : »Die Bürde des weißen Mannes«

Europäische Mächte rechtfertigten ihre Eroberungen mit einem selbst erteilten Zivilisationsauftrag

06.01.2020
2023-08-30T12:38:10.7200Z
2 Min

1879 kursierte unter deutschen Bankiers, Intellektuellen, Geschäftsleuten und Militärs die Schrift eines gewissen Friedrich Fabris: Unter der rhetorisch formulierten Frage: "Bedarf Deutschland der Kolonien?" machte sich der Direktor der Rheinischen Mission in Barmen Gedanken über die Expansion des Deutschen Reiches, das er zur "Cultur-Mission" geradezu berufen sah. "Die Zeiten, in denen Deutschland fast nur durch intellektuelle und literarische Thätigkeit an den Aufgaben unseres Jahrhunderts mitgearbeitet hat, sind vorüber." Ein Volk, das auf die Höhe politischer Macht-Entwicklung geführt sei, könne nur so lange seine geschichtliche Stellung mit Erfolg behaupten, als es sich als Träger einer "Cultur-Mission" erkenne und beweise, argumentierte Fabri und schloss mit einem Zitat des französischen Wirtschaftswissenschaftlers Paul Leroy Beaulieu: "Diejenige Nation ist die größte in der Welt, welche am meisten colonisirt; wenn sie es heute nicht ist, wird sie es morgen sein."

Die "Unterwerfung der Welt" (Wolfgang Reinhardt) durch europäische Mächte seit dem ausgehenden Mittelalter war spätestens im 18. Jahrhundert mit einem bemerkenswerten Sendungsbewusstsein verbunden. Europa, Ort der industriellen Umwälzungen und der Revolutionen, sah sich als treibende Kraft des Fortschritts und der Zivilisation - und diese Selbstbeschreibung schlug durch auf den Blick auf die außereuropäischen Kulturräume. Bestand nicht geradezu eine ethische Verpflichtung, dass jener Teil der Menschheit, der an der Spitze des Fortschritts marschiert, den anderen Teil der Menschheit an den Segnungen dieses Fortschritts teilhaben lässt? "Kolonialherrschaft wurde als Geschenk und Gnadenakt der Zivilisation verherrlicht, als eine Art von humanitärer Dauerintervention", schreibt der Historiker Jürgen Osterhammel.

Der schnöde imperiale Griff nach fremden Territorien ließ sich in den bürgerlichen und adligen Salons denken als geradezu heroischer Akt der Übernahme einer Vormundschaft durch das hochentwickelte Europas, als "Bürde des weißen Mannes", wie es in einem Gedicht des Briten Rudyard Kipling heißt. Kolonialisierung wurde nicht erfasst als mehr oder weniger gewaltsames Oktroyieren einer fremden Ordnung, sondern als in wilden Zuständen Ordnung überhaupt erst schaffende Kraft - fußend auf der Annahme einer "anthropologischen Andersartigkeit" (Osterhammel) der Kolonisierten. Weit verbreitet war etwa die Klage über die vermeintliche Undankbarkeit der Einheimischen in den kolonisierten Räumen, die sich dem europäischen Zivilisierungsprojekt durch fehlende Arbeitsmoral oder Ineffizienz widersetzen würden. Von solchem Denken war es letztlich nicht weit zur Annahme einer "rassisch" bedingten Hierarchie der Menschheit - und zum Ausbruch exzessiver Kolonialgewalt in der Behauptung gegen alles "Chaotische" und "Wilde".

Wie klaffend groß die angenommene Andersartigkeit noch um die Wende zum 20. Jahrhundert war, zeigen die Haager Friedenskonferenzen, deren Ergebnis, die Haager Landkriegsordnung, sorgfältig zwischen Kombattanten (Angehöriger staatlicher Streitkräfte) und Nicht-Kombattanten (Zivilisten, Sanitäter) unterschied: Bereits in der Präambel wurde dieser bedeutende Fortschritt des humanitären Völkerrechts einschränkt auf die Bevölkerungen "gesitteter Staaten".