Piwik Webtracking Image

Ethnologie : Der überhebliche Blick auf das Fremde

Das Fach leidet an der eigenen Geschichte. Inzwischen stehen soziokulturelle Dynamiken im Fokus

06.01.2020
2023-08-30T12:38:10.7200Z
3 Min

Wenige Fächer an deutschen Universitäten sind so sehr aus dem politischen Zeitgeist entstanden und leiden gleichzeitig vergleichbar stark unter ihrer Historie wie die Ethnologie. Heute bewerben Hochschulen den Studiengang damit, die Ethnologie sei eine "empirische und vergleichende Wissenschaft" und erforsche "die Vielfalt kollektiver menschlicher Lebensweisen". Nicht immer gab es diesen Anspruch: In seinen Anfangsjahren konzentrierte sich das Fach auf außereuropäische Gruppen, die ganz anders lebten als die Menschen im industrialisierten Europa. Überspitzt gesagt: Man nahm das faszinierende Fremde in den Blick.

Auch wenn die Neugier auf fremde Völker uralt ist, gilt Experten die Ethnologie als Kind der Aufklärung. In einer Phase, in der in Europa Vernunft zur Richtschnur des Handelns wurde, entstand sie als "Wissenschaft der Völker". Doch in einer Phase, in der die europäischen Staaten sich in einem "Wettlauf um Afrika" befanden, prägte der Geist des Kolonialismus das Fach. Die fremden Länder wurden aus der Perspektive von Reisenden und Beherrschern betrachtet, die aus einer europäisch-überlegenden Sicht Informationen über die vermeintlichen Wilden sammelten und in Form von Erzählungen und - meist geraubten - Kulturgütern mit nach Hause brachten. Dass die Glorifizierung der europäischen Zivilisation im Widerspruch zu den Ideen von Freiheit und Gleichheit stand, löste man auf, in dem man zwischen zivilisierten und weniger zivilisierten Völkern unterschied. So schrieb Immanuel Kant, unter "hunderttausenden von Schwarzen" sei "nicht ein einziger jemals gefunden worden, der entweder in Kunst oder Wissenschaft" etwas "Großes vorgestellt habe, obgleich unter den Weißen sich beständig welche aus dem niedrigsten Pöbel emporschwingen".

Herabgeblickt Man blickte auf die Fremden herab - und war gleichzeitig fasziniert von ihnen. Die berüchtigten Völkerkundeschauen, in denen insbesondere schwarze Menschen als "Primitive" zur Schau gestellt wurden, faszinierten Hunderttausende. Auch wenn der erste Ethnologie-Lehrstuhl in Deutschland 1919 nach dem Ende der deutschen Kolonialzeit eingerichtet wurde und viele deutsche Ethnologen danach strebten, Wissen zu generieren, ohne unbewiesenen Rassentheorie zu folgen: Die Wissenschaftler nutzten die kolonialen Strukturen für ihr Fach - etwa wenn sie insistierten, deutsche Truppen in Deutsch-Südwestafrika sollten nach Gefechten die Schädel getöteter Gegner einsammeln und mit nach Deutschland bringen.

Einen "Teufelspakt" mit den Nationalsozialisten bescheinigt der amerikanische Historiker H. Glenn Penny, der die deutsche Ethnologie umfassend untersucht hat, den deutschen Forschern - weil sie sich allzu häufig in den Dienst der Rassenforschung stellten. Der Freiburger Anthropologe Eugen Fischer etwa kämpfte um die "Rettung der Rasse, die das Deutschtum geschaffen hat". Häufig ergänzte die Völker- die Rassenkunde.

Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zu einer Neuausrichtung des Fachs: Die Feldforschung und das "Forschen mit" statt "Forschen über" wurde zum Standard, man entfernte sich von der euro- und ethnozentrischen Perspektive.

Doch die Freiburger Ethnologin Judith Schlehe beklagt, dass der enorme Wandel, den ihr Fach in den vergangenen Jahren vollzogen habe, öffentlich kaum wahrgenommen werde. "Man verortet uns immer noch stark im Bereich von Exotik. Wie innovativ unsere Themen und wie experimentierfreudig unsere Methoden sind, wird zu wenig zur Kenntnis genommen." Die Ethnologie befasse sich heute mit soziokulturellen Dynamiken überall auf der Welt - und habe sich vom überheblichen Blick auf das Fremde weit entfernt.

Seit vielen Jahren bringt Schlehe etwa Studierende und Promovierende aus Deutschland und Indonesien in Teams zusammen und lässt sie Themen wie etwa die akademische Kultur oder Umweltaktivismus in beiden Ländern erforschen. "Damit haben wir den Blick von außen wie von innen - und aus meiner Erfahrung, bringt es viel mehr Erkenntnisse, wenn man die Blicke kombiniert und auch das Fremde in der jeweils eigenen Kultur erkennt." Susanne Kailitz