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Aufarbeitung : Bröckelnde Amnesie

Langsam stellt sich Deutschland dem Schrecken seines kolonialen Erbes

06.01.2020
2023-08-30T12:38:11.7200Z
5 Min

Die drei Jahrzehnte deutscher Kolonialherrschaft erscheinen als kurzes und vergleichsweise harmloses Kapitel unserer Geschichte, und dass es so früh endete, wird als Glücksfall gesehen: Das Deutsche Reich hatte einfach zu wenig Zeit, um größeren Schaden anzurichten. Nach 1945 war die Mehrheit der bundesdeutschen Bevölkerung ohnehin damit beschäftigt, die Verbrechen des Nationalsozialismus zu verdrängen oder zu leugnen, und selbst die wenigen kritischen Geister nahmen die Kolonialära nur oberflächlich wahr, die Ungeheuerlichkeit des Holocaust und der Nazi-Barbarei verstellte auch ihren Blick auf die dahinterliegende Zeit.

Landraub? Unterjochung und Ausbeutung? Mord und Terror? Institutionalisierter Rassismus? War da was? Es sei doch alles gar nicht so schlimm gewesen, heißt es oft. Es habe zwar ein paar schwarze Schafe gegeben, den Schlächter General von Trotha zum Beispiel, der in Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia, das Volk der Herero ausrotten wollte. Aber im Großen und Ganzen seien unsere Urgroßväter und Großväter doch recht anständige Kerle gewesen, jedenfalls im Vergleich zu den brutalen Franzosen, Briten oder Belgiern.

Hundert Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, als das Deutsche Reich seine "Schutzgebiete" in Afrika, China und der Südsee an die Siegermächte abtreten musste, geistert immer noch die Mär vom deutschen Kolonialidyll und den Zivilisationsleistungen unserer Vorfahren durch Geschichtsbücher, Zeitungsberichte und TV-Dokumentationen.

Erst in jüngster Zeit beginnen wir, die kollektive Amnesie zu überwinden und einen neuen Blick auf das wilhelminische Kolonialabenteuer und seine Spätfolgen zu werfen. So ist zum Beispiel ein Streit um das Berliner Humboldt-Forum entbrannt, wo demnächst Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten ausgestellt werden soll, wie es so schön heißt. Die Kritiker dieses Prestigeprojekts sprechen von Raubgut, das zurückgegeben werden müsse.

Dass die Geschichtsvergessenheit allmählich überwunden wird, zeigen auch die Entfernung heroischer Denkmäler und die Umbenennung von Straßennamen, die Kolonialverbrecher ehren. Auch die Entschädigungsforderungen ehemaliger Kolonien werden allmählich ernst genommen.

Die Debatten zeigen allerdings auch, dass hierzulande noch immer nicht richtig verstanden wird, welche fundamentalen Erschütterungen der deutsche Kolonialismus im Zuge der europäischen Welteroberung ausgelöst hat. Man kann oder will nicht wahrhaben, dass diese als weltgeschichtliche Heilsmission gerechtfertigte Expansion für einen beträchtlichen Teil der Menschheit einem Höllensturz gleichkam.

"Man erzählt mir vom Fortschritt und geheilten Krankheiten", schreibt der große afro-karibische Dichter Aimé Césaire, "ich aber spreche von zertretenen Kulturen... von Tausenden hingeopferten Menschen... Ich spreche von Millionen Menschen, denen man geschickt das Zittern, den Kniefall, die Verzweiflung eingeprägt hat."

Raubwirtschaft Kolonialismus und Imperialismus, also das Streben nach Weltherrschaft, waren nach dem Sklavenhandel die zweite und entscheidende Phase, in der sich die kapitalistische Raubwirtschaft globalisierte und jene ungleiche Weltwirtschaftsordnung schuf, die den globalen Süden bis heute benachteiligt. Der Inbegriff dieser Plünderung ist die Plantage, der kamerunische Philosoph Achille Mbembe nennt sie "das Taufbecken der Moderne": Vor allem in Afrika wurden Millionen von Kleinbauern enteignet, um auf riesigen Flächen cash crops für die Märkte der "Mutterländer" anzubauen. Der Export von Agrargütern begründete eine neue Dimension des Mangels: den Hunger.

Aber die weißen Herrenmenschen konnten nicht alle "Eingeborenen" verhungern lassen, denn sie brauchten sie als Lohnsklaven. Die wichtigsten Instrumente zur Umerziehung waren der Arbeitszwang und das Steuerdiktat. Die Afrikaner und Afrikanerinnen wurden genötigt, in die Frondienste der Fremdherrscher zu treten, ihre Waren zu kaufen, über die Hütten- oder Kopfsteuer ihre Militär- und Verwaltungsapparate zu finanzieren. Die Subsistenzgemeinschaft wurde in eine Arbeitsgesellschaft verwandelt, die Geldwirtschaft verdrängte den herkömmlichen Tauschhandel. Die gewaltsame Modernisierung hatte verheerenden Folgen: Landflucht, Wanderarbeit, Entwurzelung, die Zerstörung des traditionellen Lebens.

Zugleich dienten die Kolonien als Laboratorien der Moderne, in denen repressive Verwaltungsapparate, polizeistaatliche Methoden und militärische Strategien erprobt wurden; die Invasoren bauten Konzentrationslager, trennten Wohngebiete nach Rassen, entwickelten Maßnahmen zur Bevölkerungskontrolle, Sozialhygiene und Seuchenbekämpfung. Sie zwangen den annektierten Gebieten das europäische Staatskonzept auf, und am Ende war die Welt verwestlicht.

Die Rassenlehre der Kolonialherren sollte "wissenschaftlich" untermauern, was die Unterworfenen aus ihrer Sicht immer schon waren: Sklaven, Knechte, Diener, Subjekte auf der tiefsten Stufe der Minderwertigkeit. Das erklärte Ziel war, die Bewohner der Kolonien auf eine höhere Kulturstufe zu heben, und die christlichen Missionare übernahmen dabei eine wichtige Rolle. Sie trichterten den "Heidenkindern" westliche Werte ein: Gehorsamkeit, Fleiß, Arbeitsdisziplin und natürlich sittliche Gebote wie die Einehe. Man gab vor, die "Eingeborenen" aus der Finsternis des Unwissens zu erlösen.

Für die Mehrheit der Afrikaner aber war die Kolonisierung eine Art Gehirnwäsche, die ihnen die Africaness ausgetrieben hat, ihre Identität als Afrikaner. So schwand der Rest des Selbstwertgefühls, das nach dem Trauma der Sklaverei noch übriggeblieben war: Das Denken, der Glaube, die Sinne und Wünsche der Menschen wurden kolonisiert.

Unterdessen schwindet zwar die politische und ökonomische Macht des Westens, doch seine kulturelle Hegemonie wirkt fort. Wir maßen uns eine universelle Deutungshoheit an und sehen die Welt nach wie vor mit dem "imperialen Auge". Aber die Bilder, die wir etwa über Afrika anfertigen, erzählen mehr von uns selbst als von unserem Nachbarkontinent: Sie spiegeln unsere rassistischen Vorurteile und unseren eurozentrischen Überlegenheitsdünkel. Es ist die Welt des "ewigen Negers", der nun angeblich millionenfach nach Europa aufbricht.

Während historische Darstellungen geschundener Sklaven oder Bilder von verhungernden Kindern mit Empathie betrachtet werden, lösen die aktuellen Fotos von Afrikanern, die zu Tode verängstigt auf überfüllten Schiffen im Mittelmeer dahintreiben, oft nur noch Furcht und Abscheu aus. Man nimmt sie nicht als Menschen wahr, sondern als bedrohliche schwarze Masse. Sie werden wie in der Epoche des Kolonialismus dehumanisiert.

"Absaufen! Absaufen!", skandierte der Mob, als bei einer fremdenfeindlichen Demonstration in Dresden Fernsehbilder von in Seenot geratenen Migranten gezeigt wurden. Ausländer, "Asylanten", Flüchtlinge seien unerwünscht, schreit die rechtspopulistische "Alternative für Deutschland", und in der aufgewiegelten Bevölkerung dröhnt ein vieltausendstimmiges Echo.

Alte Begrifflichkeiten Alte und neue Nazis verwenden wieder ganz selbstverständlich Begriffe wie Volk, völkisch, Lebensraum, Rasse, Rassenkampf. Sie glauben, dass das Leben schwarzer Menschen weniger wert sei - angeblich zähle es ja auch in deren Heimatländern nicht viel.

Neuerdings wird sogar darüber diskutiert, ob man afrikanische Migranten unbedingt vor dem Ertrinken retten müsse. In derart obszönen Gedankenspielen sind jene rassistischen Weltbilder zu erkennen, die in der Kolonialära geprägt wurden. Sie waren immer da. Jetzt brechen sie wieder hemmungslos auf. Bartholomäus Grill

Der Autor war langjähriger Afrika-Korrespondent des SPIEGEL. 2019 erschien sein Buch "Wir Herrenmenschen. Unser rassistisches Erbe: Eine Reise in die deutsche Kolonialgeschichte" bei Siedler.