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wirtschaft : Risse in der Kette

Die Pandemie hat eine Diskussion über die Rückverlagerung von Produktionsteilen neu belebt

20.07.2020
2023-08-30T12:38:20.7200Z
4 Min

Egal ob es der Anblick massenweise aus China angelieferter Schutzmasken war, von leergeräumten Supermarktregalen oder Zimmermannsbetrieben, die wegen rationierter Holzlieferungen zum Nichtstun verdammt waren: Die Folgen der Corona-bedingten Beschränkungen haben vor Augen geführt, wie tief wir in internationale Handelsbeziehungen verstrickt sind. Mehr noch: Deutlich geworden ist vor allem, dass die meisten Produkte Ergebnis einer global verzweigten Lieferkette sind - fällt ein Glied aus, bricht die Kette, macht eine Grenze dicht, stauen sich die mit Waren beladenen Lastwagen Dutzende Kilometer auf den Autobahnen.

Globalisierungskritiker sahen sich in ihrer Position bestätigt und warfen die Frage auf, ob eine Teil-Rückverlagerung gewisser Produktionen und Produktionsschritte ins Inland sinnvoll sein könnte. Für Anhänger dieser Denkrichtung sei Corona lediglich der Auslöser gewesen, ihren Forderungen nach einem gewissen Maß an Abschottung Gehör und Nachdruck zu verleihen, sagt der Forschungsdirektor Industriepolitik am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), Martin Gornig. "Das war alles latent schon da." Zugleich sieht der Ökonom ein erwachtes Bewusstsein für solche Fragen in der breiten Bevölkerung.

"Das Bewusstsein für Wertschöpfungsketten ist durch Corona geschärft worden", bekräftigt Holger Görg. Er leitet das Forschungszentrum Internationale Arbeitsteilung am Institut für Weltwirtschaft Kiel (IfW Kiel). "Gerade in Unternehmen stellen sich die Menschen die Frage, wie ihre Wertschöpfungsketten organisiert sind." Auch die Wirtschaftsweise Veronika Grimm erklärte unlängst in einem Interview mit dem "Handelsblatt" auf die Frage, wie Corona die deutsche Wirtschaft verändert: "Es wird nicht so bleiben wie bisher, weil wir nicht mehr so stark auf internationale Lieferketten vertrauen werden."

Dass Corona eine Zäsur in der jüngeren deutschen Wirtschaftsgeschichte darstellt, darin sind sich Ökonomen einig, unabhängig davon, welcher Denkschule sie anhängen. Anders als etwa SARS mit seinen eher regional begrenzten Folgen ist die Wirtschaft weltweit betroffen. Doch wie realistisch sind Szenarien, die einen Abbau von Lieferketten zugunsten einer stark regionalisierten Produktion skizzieren? Beispiel Autoindustrie: Ein Großteil der Einzelteile entsteht in anderen Ländern. "Einen Wagen in nur einem Land entstehen zu lassen, ist nicht profitabel", sagt Görg und verweist auf internationale Arbeitsteilungen, regionale Cluster und die damit einhergehende unterschiedliche Spezialisierung. Wie andere Industrien auch hat die Autobranche das System der Arbeitsteilung in den vergangenen Jahrzehnten optimiert und damit ihre Gewinne maximiert.

Beispiel Arzneimittelherstellung: Ein Großteil der Entwicklungszentren von Generika, also Nachahmerprodukten zum teuren Originalpatent, ist in China entstanden. So etwas in Deutschland aufzubauen und später ein Medikament vom Rohstoff bis zur Pillenpackung hier zu produzieren, würde die Preise in die Höhe schnellen lassen. Oder es braucht eine Finanzspritze vom Staat, wie bei der Schutzmaskenproduktion - für Unternehmen in dieser Teilbranche hat die Bundesregierung ihre Förderung zuletzt deutlich ausgeweitet.

Gleichwohl erklären in einer aktuellen Studie des Unternehmensberaters EY 36 Prozent der befragten Unternehmen in Deutschland, die eigenen globalen Lieferketten verändern zu wollen - was die Konzerngewinne deutlich drücken dürfte. "Die offen gelegte Unsicherheit in den globalen Lieferketten steht den Kostenvorteilen gegenüber", beschreibt DIW-Experte Gornig das Spannungsfeld. Dabei sind sich Ökonomen darin einig, dass die Risiken einer renditeoptimierten Lieferkette nach dem Corona-Schock durchaus neu bewertet werden - wie, und wie individuell, wird sich zeigen.

Robotisierung nur als Perspektive Technologische Errungenschaften, fortschreitende Digitalisierung und Robotisierung hingegen dürften sich eher langfristig als Kostendämpfer auswirken. Befürworter einer stärkeren Wertschöpfung in Deutschland und Europa führen diese Entwicklung gern ins Feld, um das Argument höherer Kosten zu entkräften: So könnten höhere Stückzahlen hierzulanden zum Preisniveau eines global arbeitsteilig erstellten Produkts erzielt werden.

Gornig verweist hingegen darauf, dass Teile in Massenfertigung auch gelagert werden müssten - was schnell zum Flächenproblem werden könnte. Görg von IfW Kiel winkt ohnehin ab und nennt das Beispiel des Adidas-Konzerns, das den 3D-Druck-Versuch mit einem Turnschuhmodell nach kurzer Zeit einstellte. Es habe sich einfach nicht gerechnet. "Die Möglichkeiten technologischer Entwicklung sind da, aber beim Ausschöpfen sprechen wir eher von Dekaden", sagt er.

In anderen Branchen würde sich eine Fokussierung auf die heimische Produktion nicht nur in steigenden Preisen, sondern auch in der Produktvielfalt niederschlagen. Im Lebensmittelbereich etwa stünde Deutschland vor echten Engpässen und weniger Auswahl bei Obst und Gemüse, würde man sich auf Waren aus regionaler Produktion beschränken. Darauf weist Gesa Busch hin, die am Fachbereich Agrarökonomie der Universität Göttingen zum Marketing von Lebensmitteln und Agrarprodukten forscht.

"Mit der aktuellen Marktstruktur wäre auf keinen Fall eine größere Änderung zu Gunsten von mehr Regionalisierung möglich", sagt die Wissenschaftlerin. Anbieter mit regionalen Vermarktungsstrukturen seien oft schon gut ausgelastet und könnten ein mehr an Nachfrage gar nicht decken. Außerdem sei kaum einem Verbraucher klar, wie international verwoben die Branche ist. Zum einen überschätzen Konsumenten mehrheitlich den Selbstversorgungsgrad etwa bei Obst und Gemüse, wie Busch in einer Studie herausgefunden hat. Bei Milch und Fleisch werde er unterschätzt. Zum anderen sieht man vielen Waren schlicht nicht an, welche Ursprünge in ihnen stecken: Ein Produkt gilt schon als "Made in Germany", wenn das letzte Zusammenmischen in Deutschland erfolgt - etwa beim Müsli. Viele Trockenfrüchte kommen aus China, weil es billiger ist.

Spannend werde, wie tief der durch Corona ausgelöste Schock bei Verbrauchern sitzt, sagt Busch. Skandale etwa in der Fleischindustrie wirkten immer nur kurz, dann kehrten die Verbraucher zum bewährten Einkaufsverhalten zurück. Zugleich hätten Trends wie der zu vegetarischer Ernährung und eben Regionalisierung gezeigt, dass Verbraucher mit ihren Wünschen das Angebot beeinflussen können, so Busch.

Doch welchen Preis sind sie dauerhaft bereit zu zahlen für das Mehr an Sicherheit? IfW-Experte Görg bezweifelt, dass mehr Bewusstsein sich in einer tiefgreifenden Verhaltensänderung niederschlägt. "Nicht ohne Grund ist Deutschland die Heimat der Discounter", sagt er.