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GRUNDRECHTE : Tiefe Einschnitte

Im Streit um die massiven Freiheitsbeschränkungen hat sich der Rechtsstaat bewährt

20.07.2020
2023-08-30T12:38:20.7200Z
4 Min

Eine der schärfsten Kritikerinnen der Corona-Beschränkungen - zumindest im Spektrum derer, die ernst zu nehmen sind - war Juli Zeh. Die 46-jährige Schriftstellerin, nebenbei ehrenamtliches Mitglied des Landesverfassungsgerichts in Brandenburg, ließ Anfang April in einem Interview der "Süddeutschen Zeitung" an der deutschen Corona-Politik kein gutes Haar.

Ausgehend von der Annahme, dass "viel schlimmere Pandemien oder andere Katastrophen denkbar" seien als die Corona-Pandemie, warf sie Politikern mit "wenig Rückgrat" vor, auf "eine eskalierende Medienberichterstattung" gestützt Angst zu schüren und mit Hilfe einer "Bestrafungstaktik" unnötige Freiheitsbeschränkungen durchzusetzen. Der eine oder andere profiliere sich als "starker Anführer". Dabei kämen Grundrechte unter die Räder. Der einstige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, betonte in derselben Zeitung: "Selbst in Kriegszeiten werden die Grundrechte nicht angetastet" - äußerte sich aber ansonsten deutlich differenzierter.

Zeh musste für das Interview viel Kritik einstecken. Unter anderem Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) verwahrte sich dagegen mit dem Hinweis, dass Tausende Menschen an dem Coronavirus stürben. "Ich weiß nicht, wie man angesichts dieser Tatsache zu der Einschätzung gelangen kann, dass hier Panikmache betrieben werde und dabei unnötig Freiheitsrechte eingeschränkt würden", argumentierte sie. Tatsächlich hat sich rund vier Monate nach Beginn der Pandemie manches wieder eingepegelt - weil die Epidemie zumindest in Deutschland nachgelassen hat, aber auch weil die Beteiligten den Umgang mit der ungewohnten Lage erst "üben" mussten.

Richtig ist ja, dass im März von einem Tag auf den anderen zentrale und in der Verfassung garantierte Grundrechte beschnitten wurden - und zwar im Wesentlichen mit Hilfe von exekutiven Verordnungen und auf der Grundlage des Infektionsschutzgesetzes: die Demonstrationsfreiheit etwa, die Gewerbefreiheit und die Reisefreiheit. Das hatte es so seit Gründung der Bundesrepublik 1949 noch nie gegeben. Die Parlamente schienen zum Zuschauen verdammt. Die ersten Notmaßnahmen im Rahmen des Lockdown seien "durchweg gerichtlich gebilligt worden", sagt der Berliner Verfassungsrechtler Ulrich Battis. Sehr rasch hat sich dann aber auch vieles relativiert.

Herrschte noch im März ein komplettes Demonstrationsverbot, folgten im April und Mai zunächst Proteste gegen die Corona-Beschränkungen selbst - zunächst von kleineren Gruppen wie vor der Berliner Volksbühne, später von Tausenden wie in München oder Stuttgart - und im Juni Anti-Rassismus-Demos quer durch das ganze Land. Es waren nicht selten Gerichte, die den Protestzügen den Weg ebneten. So fällte etwa das Bundesverfassungsgericht am 15. April eine Eilentscheidung und hob ein Versammlungsverbot im hessischen Gießen auf. Dort hatten knapp 30 Bürger demonstrieren wollen unter dem Motto "Gesundheit stärken statt Grundrechte schwächen". Die Karlsruher Richter befanden, ein pauschales Verbot sei unzulässig. Vielmehr müssten die konkreten Umstände des Einzelfalles berücksichtigt werden. Ähnliche Gerichtsentscheidungen ließen nicht lange auf sich warten. Stets ging es um die Frage, ob der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ausreichend beachtet worden sei.

Ein weiterer Konfliktpunkt war die Corona-Warn-App. Ursprünglich hatte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) den Gesundheitsämtern der Landkreise die Erlaubnis geben wollen, Handy-Daten zu orten. Nicht zuletzt Lambrecht widersprach ihm, aus praktischen wie aus grundsätzlichen Erwägungen. Spahn gab nach. Bei der Entwicklung der Corona-Warn-App gab es dann Streit in der IT-Community darüber, ob die Speicherung der Daten zentral oder dezentral erfolgen solle. Die Befürworter einer dezentralen und damit eher datenschutzkonformen Lösung setzten sich durch. Auch dass die App lediglich auf Basis der Freiwilligkeit installiert werden sollte, war bald Konsens. Nur dann, so hieß es, werde sie Akzeptanz und Verbreitung finden. Es war in diesem Fall nicht die Justiz, es war die Zivilgesellschaft, die Freiheiten sicherte.

Was die Einschränkung der Bewegungsfreiheit angeht, so war es wiederum ein Gericht, das die Politik in die Schranken wies. Nach einem massiven Corona-Ausbruch in einer Fleischfabrik des Industriellen Clemens Tönnies waren Mitte Juni Corona-Beschränkungen für den gesamten Kreis Gütersloh verhängt worden. Das nordrhein-westfälische Oberverwaltungsgericht kassierte diese Beschränkungen. Weil Infektionen überwiegend bei den Tönnies-Mitarbeitern festgestellt worden seien, dürfe man nicht sämtliche Bewohner des Kreises dazu verdammen, die Konsequenzen zu tragen, mahnte das Gericht. Eben das sei unverhältnismäßig.

Aus Sicht von Verfassungsrechtler Battis war der Verlauf in gewisser Weise typisch. "Die Exekutive ist zu Beginn sehr schnell und forsch vorgegangen", sagte er. "Das war auch angemessen." Sie habe jedoch mancherlei Maßnahmen zu rigoros oder zu lange verhängt. Dies hätten Gerichte korrigiert und dabei "sehr gute Arbeit geleistet". Eine Lehre des emeritierten Jura-Professors lautet überdies: "Das Infektionsschutzgesetz entspricht nicht vollständig den Anforderungen des Grundgesetzes; es ist nicht präzise und bestimmt genug. Man hat großzügig Eingriffe zugelassen, die im Gesetz genauer geregelt werden müssten." Eine zweite Lehre lautet, getroffene Maßnahmen ständig im Lichte der Entwicklung zu überprüfen.

Für offen hält der 76-Jährige unterdessen, "ob staatliche Zuschüsse oder Kredite für Gewerbetreibende, denen die Bude zugemacht wurde, ohne dass sie Infektionsherd waren, in jedem Fall ausreichend sind" - oder ob es da nicht festgelegte Entschädigungen geben müsse. Auch das gelte es noch zu klären.

Korrektiv Unter dem Strich lässt sich sagen: Die im Grundgesetz verbrieften Freiheiten wurden im Rahmen des demokratischen Rechtsstaates im Zuge der Corona-Krise zwar teilweise enorm eingeschränkt. Allerdings wurden die Einschränkungen nicht zuletzt im Rahmen eines politischen Wettbewerbs der Bundesländer und angepasst an das Infektionsgeschehen auch wieder zurückgenommen oder die Entscheidungen an untere Ebenen delegiert. Geschah dies nicht, funktionierten die Institutionen des demokratischen Rechtsstaates, allen voran die Judikative, als Korrektiv.

Die Eindämmung der Epidemie scheint den Verantwortlichen zwischen Konstanz und Kiel verglichen mit anderen Erdteilen Recht zu geben. Ulrich Battis jedenfalls hält die eingangs zitierte Pauschalkritik von Juli Zeh und anderen für "ziemlich übertrieben".

Der Autor ist Hauptstadtkorrespondent des RedaktionsNetzwerks Deutschland.