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POLARISIERUNG : Gewonnen wird in der Mitte

Der Wandel des deutschen Parteiensystems fällt im europäischen Vergleich moderat aus

10.08.2020
2023-08-30T12:38:21.7200Z
5 Min

Brauchen wir ein neues Parteiensystem?" oder "Parteiensystem am Wendepunkt?" - so lauten zwei Buchtitel. Doch beide sind keineswegs aktuell, sondern stammen aus dem Jahr 1983 beziehungsweise 1996. Die Rede von der Krise der Parteiendemokratie ist schon seit den 1970er Jahren immer mal wieder intensiver thematisiert worden. Doch treffen die obigen Zitate Jahrzehnte später doch zu? Gern wird von Apologeten des Krisenszenarios auf die Ergebnisse der Landtagswahl in Thüringen 2019 verwiesen, bei der CDU, FDP, Bündnisgrüne und SPD zusammen unter 50 Prozent der Stimmen blieben. Angesichts zunehmender Fragmentierung (Anzahl der Parteien und deren Größenordnung zueinander) und Polarisierung (Unterschiede in den ideologisch-programmatischen Vorstellungen der relevanten Parteien) des Parteienwettbewerbs sowie erhöhter Volatilität (Zunahme von Wechselwählern) scheinen Fragen nach der Stabilität und Regierbarkeit der deutschen Parteiendemokratie aktueller denn je. Befinden wir uns in einer grundlegenden Umbruchphase des Parteienwettbewerbs? Weicht der moderate Pluralismus einem polarisierten Pluralismus à la Weimar?

Es gibt Indikatoren, die darauf hindeuten. Da ist zunächst die gesellschaftliche Erosion des den Parteienwettbewerb prägenden Typus' der Volkspartei zu nennen. Sowohl Union als auch SPD verlieren seit den 1980er Jahren an Mitgliedern und Wählern - zusammen kamen Sozialdemokraten, CDU und CSU bei der letzten Bundestagswahl auf gerade noch einmal 53,5 Prozent der abgegebenen Zweitstimmen, was nach mühsamer, zunächst von der SPD partout nicht gewollter gemeinsamer Regierungsbildung die Bezeichnung "Große Koalition" kaum noch rechtfertigt. Die Mitgliederzahlen der CDU und der Sozialdemokraten haben sich seit der Hochzeit der 1970er Jahre halbiert. Zumindest für die SPD bezweifeln viele darüber hinaus, ob die Zuschreibung als Volkspartei über Selbstcharakteristik hinaus noch angebracht erscheint. Die Gründe für den Rückgang der gesellschaftlichen Verankerung sind vielfältig. Gesellschaftlicher Wandel mit der Erosion der traditionellen Milieus der gewerkschaftsgebundenen Arbeitnehmerschaft und der Kirchgänger bei gleichzeitigen Prozessen der Individualisierung oder sogar Singularisierung lassen es für Parteien, die auf Integration und Repräsentation sehr vieler gesellschaftlicher Gruppen setzen, schwerer werden, im Wettbewerb zu bestehen. Solcherlei Integrationsparteien, die unterschiedlichste gesellschaftliche Gruppen umspannen, sind spürbar weniger gefragt, so wichtig sie auch in einem pluralistischen Wettbewerb zur Kompromissfindung sind und in der Vergangenheit das Regieren erleichtert haben.

Versäumnisse Hinzu kommen eigene Versäumnisse wie etwa die aus Sicht vieler Wähler zu geringe Responsivität, die Bereitschaft politischer Amtsträger, auf Interessen der Bürger einzugehen, bei zentralen Themen wie Migration, Klima oder Digitalisierung. Gesellschaftlich virulente Konflikte fanden in deren Augen nicht ausreichend Widerhall, was Vertrauensverluste und Unzufriedenheit nach sich zog. Union und SPD erscheinen gerade jüngeren Wählern als Organisationen einer älteren Gesellschaft, welche Antworten auf Fragen der Zukunft partiell vermissen lassen. Der jüngste Relevanzgewinn von sozio-kulturellen Aspekten ist von ihnen nicht hinreichend beachtet worden: Orientieren sich CDU und insbesondere die SPD noch immer an sozio-ökonomischen Themen, so haben sich zuletzt eher Themen der sozio-kulturellen Wettbewerbsdimension in den Vordergrund geschoben, wovon diejenigen Parteien profitieren konnten, die dieses jeweilige Thema als ihren Markenkern betrachten; waren sie es doch, die diese Themen originär in den Parteienwettbewerb eingebracht haben. Ob nun Migration durch die AfD oder Klimapolitik durch die Grünen; beide können zudem als Oppositionsparteien die "reine Lehre" vertreten, was im Alltag von Regierungsparteien ein kaum durchzuführendes Unterfangen darstellt. Hier stehen sich Kompromissfindung (nicht nur zwischen Koalitionsparteien, sondern auch zwischen Ressorts und mit vielen gesellschaftlichen Verbänden und Interessengruppen) und Alternativcharakter gegenüber. Klare Kante gewann zuletzt gegenüber Kompromisslösungen die Oberhand. Regierungsparteien ziehen oftmals in einem Überbietungswettkampf an populären Forderungen den Kürzeren

Damit sind wir beim zweiten Indikator für Instabilität: dem recht rasanten Aufstieg der AfD. Was einerseits im europäischen Vergleich als Normalisierung oder verspätete Nachholung betrachtet wird (mit wenigen Ausnahmen konnten rechtspopulistische Parteien längst nahezu überall in Europa beachtliche Wahlergebnisse erzielen), erfüllt andererseits Beobachter mit großer Sorge. Letztere sehen durch den Politikansatz des Populismus zentrale Grundsätze der liberalen Demokratie wie pluralistische Willensbildungsprozesse, Unabhängigkeit der Justiz oder Gewaltenteilung in Gefahr. Auf jeden Fall zeigen die Wahlerfolge der AfD, dass die einstige Immunität des deutschen Parteiensystems gegenüber rechtspopulistischen Herausforderungen nicht mehr gegeben ist

Als Antipode der AfD in sozio-kulturellen Fragen haben die Grünen bis zum Beginn des Ausbruchs der Corona-Pandemie in Deutschland bei Wahlen und Umfragen deutlich zugelegt, nicht zuletzt aufgrund der hohen Relevanz der Klimapolitik. Nach jüngsten Umfragen rangiert das Klimathema vor den Folgen der Bewältigung der Corona-Pandemie, was anzeigt, dass den Grünen weiterhin viele Wähler zugeneigt sein dürften. Selbst die hohen Vertrauenswerte, welche die Bundesregierung seit März 2020 genießt, hat dem Höhenflug der Bündnisgrünen kein jähes Ende bereitet, wenngleich den Traum vom Kanzleramt in weite Ferne rücken lassen.

Erwartungen Dass in Umfragen derzeit ausschließlich die Unionsparteien profitieren, dürfte wohl mit der relativ hohen Wirtschaftskompetenz und der im Vergleich zum Koalitionspartner deutlich höheren Popularität ihres Spitzenpersonals, allen voran der Bundeskanzlerin, zusammenhängen. Dennoch zeigt es eine Erwartungshaltung der Wählerschaft an, der die Union in der kommenden Zeit bis zur Bundestagswahl erfüllen muss, will sie die Wahl ähnlich erfolgreich bestreiten. Das wiedergewonnene Vertrauen für CDU und CSU macht aber auch deutlich, dass bei allen Phänomenen der potentiell destabilisierenden Polarisierung des deutschen Parteiensystems Alarmismus (zumindest derzeit noch) fehl am Platz ist. Gerade im europäischen Vergleich zeigt sich, dass der Wandel des deutschen Parteiensystems eher moderat ausfällt und nach wie vor die etablierten Kräfte den Wettbewerb bestimmen. Schaut man nach Italien oder Frankreich, lassen sich dort weit radikalere Transformationsprozesse beobachten. Das deutsche Parteiensystem dagegen ähnelt in der Entwicklung eher den nordeuropäischen mit bislang nur begrenztem Wandel. Derzeit ist trotz leicht ansteigender Tendenz die Zahl der Wähler noch vergleichsweise klein, welche dem Pluralismus und den damit einhergehenden Ausgleich von Interessen ablehnend gegenüberstehen.

Noch lässt sich sagen, dass es nicht die sich in der sozio-kulturellen Dimension diametral gegenüberstehenden Gruppen der weltoffenen, linksliberalen Wähler einerseits und der national orientierten Gruppierungen andererseits sind, welche Wahlen entscheiden. Es sind vielmehr diejenigen der politischen Mitte, die sich bei aller subjektiven Verunsicherung nach wie vor durch eine Grundzufriedenheit und Kompromissbereitschaft auszeichnen. Anzeichen der Destabilisierung durch einen polarisierten Pluralismus sind nicht zu übersehen, sollten aber nicht überbewertet werden. Jedoch sind Zukunftsprognosen riskanter geworden: Das Parteiensystem spiegelt gesellschaftliche Entwicklungen der Pluralisierung und der zunehmenden Vielfalt mit partiellem Auseinanderdriften der einzelnen gesellschaftlichen Gruppen wider. Partielle Instabilitäten aufgrund eines als weniger erfolgreich als zuletzt wahrgenommen Handelns der Bundesregierung sind nicht ausgeschlossen. Denn die Wahlentscheidung des Einzelnen fällt immer kurzfristiger aus, und Wahlausgänge sind abhängiger von aktuellen Stimmungs- und Themenlagen sowie situativen personellen Konstellationen geworden.

Der Autor ist Professor für Politik-wissenschaft an der Universität Trier.