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amri-ausschuss : »Furchtbares Ereignis«

Zeuge Maaßen kann keine Fehler des Verfassungsschutzes erkennen

12.10.2020
2023-08-30T12:38:24.7200Z
4 Min

Er hatte keinen Zweifel. Zwar war im ersten Anruf, der ihn erreichte, noch von einem "Vorfall" die Rede. Einen "Vorfall" nennen Sicherheitsbehörden, wie Hans-Georg Maaßen den Abgeordneten vergangene Woche im Amri-Untersuchungsausschuss erläuterte, ein Ereignis, dessen Ursache bis auf Weiteres nicht feststeht. So wie am frühen Abend des 19. Dezember 2016, als ein Schwerlaster in den Weihnachtsmarkt an der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche gerast war und zunächst die Frage im Raum stand: War es womöglich ein Unfall? "Ich dachte sofort an einen Terroranschlag", sagte Maaßen, weil ihm die Veröffentlichungen des sogenannten Islamischen Staates (IS), aus eingehendem Studium vertraut waren. Dort seien vergleichbare Formen des Attentats "wiederholt propagiert" worden.

Mähmaschine Maaßen erinnerte sich an einen Beitrag im IS-Magazin "Inspire" aus dem Jahr 2010, dessen Autor unter dem Titel "Die ultimative Mähmaschine" Kämpfern des Dschihad ans Herz legte, sich ein Fahrzeug zu besorgen und damit möglichst große Ansammlungen von Ungläubigen zu attackieren. "Der Westen soll aus allen Poren bluten", zitierte Maas das Credo der IS-Strategen. In Nizza hatten sie am 14. Juli 2016 einen nach diesem Verständnis großen Erfolg erzielt, als ein Lastwagen über die Uferpromenade bretterte und 86 Tote hinterließ. Die deutschen Behörden zogen daraus die Konsequenz, die Feierlichkeiten in Dresden zum Tag der Deutschen Einheit am darauffolgenden 3. Oktober mit "Betonblockaden" zu schützen, wie Maaßen erläuterte. Für angebracht hätte er es gehalten, wenn damals "auch bei anderen Veranstaltungen" solche Vorkehrungen getroffen worden wären, wie es nach dem Anschlag auf dem Breitscheidplatz üblich wurde.

Idealtypisch Der 57-jährige Maaßen, der sich dem Ausschuss als Rechtsanwalt vorstellte, hat einen Großteil seines Juristen- und Beamten-Daseins mit zwei Themen verbracht, dem Asyl- und Zuwanderungsrecht und dem Terrorismus. Eine Figur wie der Tunesier Anis Amri, der 2015 aus Italien als Flüchtling nach Deutschland gelangte, sich unter verschiedenen Identitäten Leistungen erschlich und mit Drogen handelte, um schließlich das opferreichste radikalislamische Attentat der bisherigen deutschen Geschichte zu verüben, zählt zum idealtypischen Personal seiner Vorstellungswelt.

Über die "Rechtsstellung des Asylbewerbers" hat Maaßen seine Dissertation verfasst. Als Unterabteilungsleiter im Bundesinnenministerium stand er seit 2008 an der Spitze der "Stabsstelle Terrorismus". Im August 2012 wurde er Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), wo er, wie er dem Ausschuss erläuterte, die Abwehr radikalislamischer Gewalttäter zur "Toppriorität" hochstufte, die zuständige Abteilung "erheblich" ausbaute und im Übrigen als meinungsstarker Amtschef Kritik auf sich zog. Sie mündete im November 2018 in seiner Ablösung und Versetzung in den einstweiligen Ruhestand.

Polizeifall Das Berliner Attentat habe er als "das furchtbarste Ereignis in meiner Amtszeit" empfunden. Es war zugleich ein weiterer Anlass, anzuecken. Seine Gegner warfen Maaßen vor, die Öffentlichkeit und sogar das Parlament angelogen zu haben, indem er erklärte, Amri sei ein "reiner Polizeifall" gewesen und behauptete, der Verfassungsschutz habe im "Umfeld" des späteren Attentäters über keine Quelle verfügt. Die eine wie die andere Aussage wurden zu Leitmotiven des Untersuchungsausschusses, der jeden Zeuge, jede Zeugin aus dem Verfassungsschutz danach befragte.

Im September 2018 ließ eine Sachbearbeiterin die Abgeordneten aufhorchen, als sie mitteilte, ihre Behörde habe bereits seit Anfang 2016 eine Personenakte über Amri besessen. Am generellen Tenor der Aussagen änderte das freilich nichts. Der Verfassungsschutz sei mit Amri nur am Rande befasst gewesen und habe über ihn zu keinem Zeitpunkt mehr gewusst als die Polizei. Einen V-Mann, der Amri persönlich gekannt habe, also im eigentlichen Sinne dessen "Umfeld" zuzurechnen gewesen wäre, habe die Behörde auch nicht besessen. Das bekamen die Abgeordneten von allen Verfassungsschützern zu hören, die ihnen bisher zu Wort standen. Ausnahmslos.

Ihr einstiger Präsident unterhielt den Ausschuss mit einer Vorlesung zum historischen Kontext. Er zitierte aus seiner Rede vor der vierten Berliner Nachrichtendienste-Konferenz am 26. Oktober 2016, in der er ausgeführt habe, dass "aufgrund der aktuellen Bedrohungslage jederzeit mit schweren Anschlägen in Deutschland zu rechnen" sei. Die Jahre 2015 und 2016 habe er als Zeit "größter Herausforderungen" im Gedächtnis. In Europa sei es damals zu 25 radikalislamischen Terroranschlägen mit insgesamt 564 Toten gekommen. Der Propaganda des IS seien "viele junge muslimische Männer im Westen" erlegen. Allein aus Deutschland seien mehr als tausend Islamisten in den Krieg nach Syrien und Irak gezogen.

Zuwanderung Die damalige Flüchtlingspolitik habe ein Übriges getan. Eine "deutliche Erhöhung der Sicherheitsrisiken" sei die Folge gewesen. Mindestens 20 Asylbewerber seien nach Verfassungsschutz-Erkenntnissen "mit einem konkreten Terrorauftrag" des IS eingereist. Wenn bei einer "ungebremsten und ungesteuerten Zuwanderung junger Männer" auf Identitätsprüfungen verzichtet und auch falsche Angaben zur Person hingenommen würden, bilde sich das "Reservoir" für die Rekrutierung islamistischer Attentäter fast von selbst. Zum Beleg zitierte Maaßen aus der Statistik. So sei 2016 das islamistisch-terroristische Potenzial auf 1.600 Personen gestiegen. Die Zahl der registrierten Gefährder habe sich zwischen 2012 und 2016 von 123 auf 584 erhöht. 2016 seien zudem 233 Anschlagsplanungen aufgedeckt worden, doppelt so viele wie 2012.

Nichts vertuscht Dass ihm und seiner Behörde nichts vorzuwerfen sei, davon machte Maaßen keine Abstriche: "Ich denke, dass unter den damaligen Bedingungen wir als Amt gute Arbeit geleistet haben." Ebenso wenig sei verschleiert oder vertuscht worden. Das Bundesamt habe "zu keinem Zeitpunkt verschwiegen", dass es am "Polizeifall" Amri "beteiligt war". Dass es in der Berliner Fussilet-Moschee, wo Amri verkehrte, einen Informanten hatte, sei Anfang 2017 dem Parlament offenbart worden. Der Mann habe Amri aber eben nicht gekannt.

Versäumnisse habe es bei jenen gegeben, die gegenüber dem kriminellen Asylbewerber Amri den Rechtsrahmen nicht ausgeschöpft hätten. Warum sei der Mann frei herumgelaufen, habe sogar sein Mobiltelefon benutzen dürfen? Es sei unverständlich, dass sich Amri damals mit dieser Biografie in Deutschland habe aufhalten können, sagte Maaßen. "Der Anschlag hätte nicht stattfinden müssen."