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ISRAEL : Zersplitterte Kammer

Minderheiten profitieren vom Verhältniswahlrecht

12.10.2020
2023-08-30T12:38:24.7200Z
3 Min

Israels Wahlsystem ist in der Theorie simpel: Das ganze Land gilt als ein Wahlkreis; die Bürger wählen den Ministerpräsidenten nicht direkt, sondern entscheiden sich für eine von rund 50 Listen, die aus einer oder mehreren Parteien bestehen. Jede Liste, die es über die Sperrklausel von 3,25 Prozent schafft, bekommt anteilig der Stimmen Sitze in der Knesset, dem Parlament. Einige Parteien bestimmen in diesem reinen Verhältniswahlrecht ihre Kandidaten für die Liste per Vorwahlen, andere entscheiden innerhalb der Partei. Die ultraorthodoxen Parteien wählen ihre geistlichen Führer. Weil 120 Abgeordnete in der Knesset sitzen, braucht es für eine absolute Mehrheit 61 Mandate. Sie zu erreichen, ist bisher noch keiner Partei gelungen. Üblicherweise wird deswegen der Vorsitzende der stärksten Partei beauftragt, eine Koalition zu bilden. Wenn das gelingt, ist er Premierminister.

Die Wahlen zur Knesset finden alle vier Jahre statt. Die Knesset oder der Premierminister können das Parlament jedoch auflösen und damit eine Neuwahl einleiten. Seit 1981 ist nahezu jede Knesset vorzeitig aufgelöst worden - seit 2019 wurden die Bürger sogar gleich drei Mal zu den Urnen gerufen.

Das politische Spektrum und die Zersplitterung in vielen Parteien spiegeln die ethnische, religiöse und kulturelle Bandbreite der Bevölkerung wider. Auch Minderheiten finden in diesem Wahlsystem Platz in der Knesset.

Schwierige Entscheidungsfindung Kritiker halten das Wahlsystem daher für zu stark zerklüftet. Die bunte Parteienlandschaft verschärfe die "Stammespolitik" in Israel, lautet ihr Vorwurf. Tatsächlich müssen für die Regierung oft Allianzen mit kleinen Parteien gebildet werden, die sehr spezielle Interessen haben. Das mache die Politik nicht nur instabil und kurzlebig, sondern erschwere die Entscheidung über fundamentale Fragen wie Siedlungspolitik oder Erziehungsreform. So scheiterte zum Beispiel die erste Regierung unter Jitzchak Rabin 1977 am Unmut der Ultraorthodoxen über die Frage, ob die Fluglinie El Al am Schabbat fliegen darf.

Um das Land besser "regierbar" zu machen, wurde die Sperrklausel für die Knesset über die Jahre immer wieder hochgeschraubt. Eine Taktik, die sich laut Kritikern in erster Linie gegen die arabische Minderheit richtet. Um die Regierungsbildung zu vereinfachen, gab es in den 1990er Jahren den Versuch, die Direktwahl des Regierungschefs einzuführen. Das führte jedoch eher zu einer weiteren Aufsplitterung in der Knesset.

Wer darf wählen? Als Benjamin Netanyahu 2019 wieder Regierungschef wurde, obwohl sich laut Umfragen 52 Prozent der Wähler gegen ihn stellten, forderte der Journalist Raviv Drucker in der Zeitung Haaretz ein smarteres Wahlsystem. Es müsse möglich sein, neben der Listenwahl auch Zweit- und Drittstimmen an andere Kandidaten zu verteilen.

Für Diskussionen sorgt auch immer wieder die Frage, wer eigentlich wählen darf. Per Gesetz sind das alle Bürger über 18 Jahre, die sich am Wahltag in Israel befinden - ausgenommen der palästinensischen Einwohner von Ost-Jerusalem. Jüdische Siedler im Westjordanland dagegen dürfen wählen. Rechte Parteien sprechen sich zudem seit Jahren für ein Wahlrecht der Israelis in der Diaspora aus, wozu gemäß des Rückkehrrechts theoretisch alle Juden gehören könnten.

Rekord in der derzeitigen Knesset sind die inzwischen dreißig Frauen unter den 120 Abgeordneten, darunter vier arabische Israelinnen. Damit hat sich der Anteil an weiblichen Abgeordneten in 15 Jahren mehr als verdoppelt. Die Ultraorthodoxen führen keine Frauen auf ihrer Liste.

Bei den anhaltenden Protesten gegen Regierungschef Benjamin Netanyahu, die das Land seit Monaten umtreiben, zeigt sich deutlich, was sich seine Gegner wünschen. "Lech!", steht auf vielen Schildern, "Geh!" im männlichen Imperativ. Und "Boi" ("Komm" in der weiblichen Form). Der Tenor: Israel könne nach Jahren der Macho-Regierung nur eine Premierministerin retten. Nur gefunden werden muss sie noch.

Die Autorin ist freie Korrespondentin für Israel und Palästina.