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Interview : Angehörige kommen sogar aus Tasmanien

Der Kölner Künstler Gunter Demnig über sein Projekt und die Begegnungen mit den Familien der Opfer

22.03.2021
2023-11-13T09:51:14.3600Z
3 Min

1993 wurde in Köln der erste Stolperstein gesetzt. Was gab den Anstoß, sich diesem Lebensprojekt zu verschreiben?

Es gab eine wichtige Vorarbeit, die mich auf die Idee der Stolpersteine brachte. Im Mai 1990 habe ich in Köln einen Erinnerungsweg gelegt für 1.000 Roma und Sinti, die im Mai 1940 deportiert wurden. Ihnen wurde gesagt, sie bekämen im Osten eine neue Heimat. Für die Fahrt dorthin werde nur leichtes Gepäck benötigt, die Möbel würden nachgeliefert. Zynischer kann man nicht lügen. Die Schriftspur wurde auf die Straße gelegt, wo die Menschen abgeholt wurden, bis zur Deutzer Messe, einer Außenstelle des KZ Buchenwald. Da habe ich mich gefragt: Wo hat das Grauen angefangen? Dann gab es den angeblichen Befehl von Heinrich Himmler, dass "Zigeuner" nach Auschwitz gebracht werden sollen. Die Vorschriften zu diesem Befehl habe ich in eine Blechdose gepackt, eingelötet und unter einer Messingplatte illegal vor dem Kölner Rathaus zusammen mit Vertretern der Opferverbände verlegt. Das war der Prototyp eines Stolpersteins.

Können Sie die Kritik von jüdischen Gemeinden an dem Konzept nachvollziehen?

Es gab viele diffuse Widerstände, vor allem aus München. Der absurde Vorwurf war, 'da wird auf den Menschen herumgetrampelt'. Es ist ja auch nicht die Jüdische Gemeinde, die dagegen ist. Es ist Frau Knobloch, die ehemalige Präsidentin des Zentralrats der Juden. Ärgerlich ist es insofern, weil dann Hausbesitzer kamen und sagten, wir wollen diese Steine nicht, denn Juden seien ja auch dagegen. Das stimmt ja nicht. Der damalige stellvertretende Präsident des Zentralrates, Salomon Korn, hat Führungen gemacht zu den Stolpersteinen im Frankfurter Westend. In München haben wir jetzt auf privatem Grund Stolpersteine verlegt, im Eingang von Häusern.

Oft kommen Angehörige zu den Verlegungen. Sind Ihnen besondere Schicksale und Begegnungen in Erinnerung geblieben?

Die weiteste Anreise, die ich von Angehörigen hatte, war von Tasmanien nach Köln. Eines der wichtigsten Treffen für mich war 2004 in Rotenburg an der Wümme. Dort habe ich wie vereinbart sechs Steine verlegt - die Eltern wurden in Auschwitz ermordet, ihre zwei Töchter wurden bei einem Kindertransport gerettet, und dann zwei Steine für Mitarbeiter der Familie, die auch in dem Haus gewohnt haben. Zur Verlegung kamen die beiden Töchter angereist, die eine aus Kolumbien, die andere aus Schottland. Sie hatten sich seit 60 Jahren nicht mehr gesehen. Sie sagten dann, dass sie jetzt mit ihren Eltern wieder zusammen sind. Bei den Steinverlegungen treffen oft Familienmitglieder aus verschiedenen Kontinenten aufeinander, die sich zum Teil noch nie gesehen haben.

In Buenos Aires sind als erstem Ort außerhalb Europas Stolpersteine verlegt worden. Gibt es weitere Pläne?

Vor Buenos Aires war Südkorea. Ein Professor für Geschichte, der in München studiert hat, hatte mit Studenten Stolpersteine angeregt für die sogenannten Trostfrauen, also südkoreanische Frauen, die von den Japanern im Zweiten Weltkrieg zur Prostitution gezwungen wurden. Dann gibt es auch noch Stolpersteine für südkoreanische Zwangsarbeiter auf der japanischen Insel Hokkaido. Da sind meine Frau und ich hingeflogen und wir haben diese Steine auch verlegt. In Buenos Aires in einer deutschen Schule, in der auch jüdische Flüchtlingskinder unterrichtet wurden, haben wir 2017 eine Stolperschwelle verlegt. Das machen wir dort, wo Menschen nicht gewohnt haben.

Auch viele Kinder bleiben mit ihren Eltern bei den Stolpersteinen stehen und fragen nach. Welche Botschaft haben Sie für die junge Generation?

Für meine Frau Katja und mich ist es das Wichtigste, dass wir dieses Projekt für die jungen Leute machen. Ich merke immer wieder, es ist ein anderer Geschichtsunterricht. Sechs Millionen ermordete Juden sind eine abstrakte Größe. Aber wenn die Kinder plötzlich so ein Familienschicksal in der eigenen Umgebung wahrnehmen, fangen sie ganz anders an, darüber nachzudenken. Sie rechnen und erkennen' die waren ja damals genauso alt wie ich heute.

Der Künstler Gunter Demnig hatte vor 30 Jahren die Idee für die Stolpersteine und verlegt sie seitdem selbst.