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Traditionen : Kerwasau, Küchle und Kräuterschnaps

In Franken ergänzen sich lokale Bräuche mit Erfahrungen aus der globalisierten Welt. Alte Gewohnheiten stärken den Zusammenhalt

09.08.2021
2023-08-30T12:39:40.7200Z
6 Min

Die Nürnberger Burg, Bratwürstchen mit Sauerkraut, das "Club"-Trikot - diese Motive wählte der bayerische Ministerpräsident Markus Söder für eine Fotoserie, die er am 2. Juli 2021, dem Tag der Franken, auf Instagram postete. Wie so Vieles inszeniert Söder auch seine fränkischen Wurzeln gern. 2014 eröffnete die bayerische Staatsregierung eine Dependance des Heimatministeriums in Nürnberg. Söder, damals Finanz- und Heimatminister, galt fortan als der Mann, der den Freistaat nach Franken holte und damit ein Signal setzte: Nicht nur Altbayern ist den Menschen Heimat, sondern auch Franken.

Klare Abgrenzung Es ist ein urfränkischer Komplex: Man fühlt sich immer ein wenig kleiner und unbedeutender als Südbayern mit seiner glanzvollen Hauptstadt München. Nur eines gibt es, das der Franke nicht auf sich sitzen lassen kann. Ein verdutztes Gegenüber, das meint, man komme aus Bayern, wird korrigiert: "Nein, aus Franken, genauer aus Westmittelfranken." Franken hat nicht das eine Zentrum, mittelgroße Städte wie Ansbach in Mittelfranken, Würzburg in Unterfranken sowie Bamberg und Bayreuth in Oberfranken sind gleichauf.

Der fränkischen Polyzentralität ist es zu verdanken, dass Traditionen, typische Gerichte und der Dialekt in den Regionen sehr individuelle Ausformungen erfahren haben. Da konnten die Macher des ersten Franken-Tatorts 2015 nur in ein Fettnäpfchen treten, als die Pförtnerin der fiktiven gesamtfränkischen Mordkommission mit Sitz in Nürnberg nicht Mittelfränkisch, sondern Rheinfränkisch sprach. Gemein ist allen fränkisch Sprechenden nur, dass sie "d" und "b" sagen, wo auf Hochdeutsch ein "t" und "p" hingehört.

Weltliches Treiben Wichtigstes Fest im Jahreslauf eines fränkischen Ortes ist die Kirchweih, je nach Region Kerwa, Kärwa, Kirwa, Kerm, Kerb oder Kirb genannt. Ursprünglich wird die jährliche Wiederkehr der Weihe der Kirche gefeiert, doch auch wenn die - evangelische wie katholische - Kirche in vielen fränkischen Dörfern durchaus noch eine Rolle spielt, bei der Kirchweih steht das weltliche Treiben im Vordergrund. Heute sei "der Glanz der Kirchweih etwas verblasst", meint Heidrun Alzheimer, Professorin für Europäische Ethnologie an der Universität Bamberg. Gibt es doch heute selbst auf dem Land eine Vielzahl an Gelegenheiten, sich zu vergnügen und zu betrinken.

Doch die Kirchweih ist kein rein kommerzielles Fest, sondern wird vom ganzen Ort gemeinsam auf die Beine gestellt. Kerwabursche oder Kerwamadla in einem evangelischen Dorf darf werden, wer ledig und konfirmiert ist. Während der Kirchweih erkennt man die Kerwaburschen an ihren weißen Hemden und roten Halstüchern, die am Montag der Herzensdame umgebunden werden.

Begleitet von einer Musikkapelle, wird am Donnerstagabend die "Kerwa ausgegraben", eine Flasche Schnaps, die am Montagabend der letzten Kirchweih eingegraben worden war. Ein Höhepunkt ist das Aufstellen des Baums am Samstagmorgen - mit reiner Muskelkraft und der Hilfe von sogenannten Schwalben, also zusammengebundenen Stangen. Steht der Baum, öffnen die Buden und Fahrgeschäfte auf dem Festplatz.

Getrunken wird lokales Bier und selbstgebrannter Schnaps. Die Brauereidichte ist nirgendwo so hoch wie in Franken. Kerwa steht für kollektiven Rausch und Ekstase. Am meisten die "Sau rauslassen" darf die "Kerwasau" beim Umzug am Sonntagmorgen. Das ist ein trinkfester junger Mann, der in Omas Kittelschürze gekleidet, mit einer Strumpfhose über dem Kopf und einer Hacke in der Hand johlend durch die Zuschauermenge rennt und bei Kindern gefürchtet ist.

Peinliche Dorfszenen Traktoren ziehen Anhänger durch den Ort, auf denen die Kerwajugend lustige und peinliche Szenen aus dem Dorfleben nachspielt. Kerwamadle verkaufen die im Dialekt verfasste Kerwazeitung, eine Art Chronik des Dorfgeschehens aus dem vergangenen Jahr, garniert mit allerlei Tratsch. Auf dem Sängerwagen, versteckt hinter jungen Bäumchen, geben ältere Ortsburschen Kerwalieder zum Besten. Die frauenfeindlichen Texte der Kerwalieder sind der Grund, warum die fränkische Kirchweih als solche an der Aufnahme in die Liste des immateriellen Kulturerbes gescheitert ist.

Ausgesprochen traditionell geht es auch beim Essen zu. Zum Kirchweih-Auftakt gibt es Schlachtschüssel, es folgen andere deftige Fleischgerichte wie Schäufele, also Schweineschulter, mit Kloß, oder Rinderbraten mit Meerrettich, Fränkisch "Kren". Die Heilpflanze des Jahres 2021 wird zwar als "bayerischer Meerrettich" vermarktet, wächst aber er vor den Toren der Fränkischen Schweiz. Zum Nachtisch gibt es "Küchle" aus feinem Hefeteig, der in siedendem Fett ausgebacken und mit Puderzucker bestreut wird. Dabei zeigt sich die Zersplitterung Frankens in evangelische und katholische Gegenden auch in der Backstube: Das evangelische Küchle ist ein luftgefülltes Kissen, beim katholischen Pendant, auch "Knieküchla" oder "Auszogene" genannt, umgibt ein kreisrunder Wulst einen dünnen, knusprigen Teig.

Während die Limmersdorfer Lindenkirchweih in Oberfranken, die als immaterielles Kulturerbe zählt, inzwischen ein Touristenmagnet ist, kämen die meisten fränkischen Dörfer nicht auf die Idee, ihre Kirchweih zu vermarkten.

Bräuche statt Folklore Wer als Ortsfremder zufällig in eine Straßensperre gerät, bei der die Dorfjugend Wegzoll verlangt, erlebt einen Ort im Ausnahmezustand. Aber niemand drückt dem Fremden eine Broschüre mit Erklärungen in die Hand oder weist den Weg zur Zuschauertribüne. Die Kirchweih wird vom Dorf fürs Dorf ausgerichtet und eben nicht für Dritte.

Genau darin mag ein Grund für ihre Beständigkeit liegen. Denn die größte Bedrohung für Traditionen liegt nach Überzeugung der europäischen Ethnologin Alzheimer in einer "Folklorisierung". "Wenn Bräuche nicht mehr von einer Gruppe gemeinsam praktiziert werden, sondern für Dritte vorgeführt werden, sind sie ihrer identitätsstiftenden Funktion beraubt und nur noch ein Abklatsch ihrer selbst." Davon sind die meisten fränkischen Kirchweihen weit entfernt. Alzheimer warnt aber auch: Das allzu strikte Festhalten an bestimmten Vorgaben berge die Gefahr, dass der Brauch erstarre. Sie plädiert dafür, Veränderungen zuzulassen und den Nachwuchs ebenso wie Zugezogene zu integrieren. Denn das gemeinsame Ausrichten eines Festes schweißt die Dorfgemeinschaft zusammen.

Gegentrend zur Globalisierung Die diffuse Angst vor einer globalisierten Einheitskultur hält die Forscherin für unbegründet: "Globalisierung ist zunächst einmal Austausch und Bereicherung", sagt sie. Solange nur einzelne Elemente einer fremden Kultur übernommen und in die eigene einfügt werden, sieht sie keine Gefahr. Im Gegenteil: "Das sind Erhaltungsmaßnahmen, die der Verlebendigung von Traditionen dienen."

Wie gut das gelingen kann, veranschaulicht die "kulinarische Landkarte" der Metropolregion Nürnberg: 170 regionale Lebensmittel vom Apfel-Secco über Karpfenchips bis zur Lebkugel sind dort mit Bezugsquelle aufgelistet. Die lokale Kulinarik wird als Gegentrend zur Globalisierung zelebriert. Franken hat noch immer die größte Dichte an Bäckereien, Metzgereien und Brauereien im ganzen Land.

Auch Simon Kistenfeger kommt bei der Frage nach fränkischen Traditionen gleich aufs Essen und Trinken. Der 34-Jährige ist international renommierter Bartender, er hat Wettbewerbe auf der ganzen Welt gewonnen und in berühmten Bars gearbeitet. Über 80 Länder hat er bereist und fühlt sich als Weltbürger. "Ich könnte überall auf der Welt leben", versichert er. 2019 eröffnete er die Bar "Mucho Amor" in seiner Heimatstadt Rothenburg ob der Tauber. Die mittelfränkische Kleinstadt mit ihrer wiederaufgebauten Stadtmauer und dem Weihnachtsdorf von Käthe Wohlfahrt ist auf der ganzen Welt bekannt. Fast zwei Millionen Besucher zog Rothenburg vor der Corona-Pandemie im Jahr an.

Kräuter für Drinks In der "kleinsten Weltstadt", wie Kistenfeger seine Heimat nennt, mixt er nun Cocktails mit Gin, Lavendelsirup oder Mirabellenlikör - alles selbstgemacht mit saisonalen Zutaten aus der näheren Umgebung. Der Bartender ist gern in der Natur unterwegs, um Kräuter für seine Drinks zu sammeln. Die Biere und Weine auf der Karte stammen alle aus Franken, manche Drinks enthalten aber auch Zutaten, die Kistenfeger während seiner Auslandsaufenthalte schätzen gelernt hat: Mexikanische Chilis zum Beispiel oder Aquavit, das norwegische Nationalgetränk.

Dazu werden vegane Speisen serviert. "Vegan und Franken ist kein Gegensatz", sagt Kistenfeger und räumt mit dem Klischee auf, das ein fränkisches Gericht ohne einen Batzen Fleisch nicht vollwertig sei. Er serviert etwa Bratwürste aus regionaler Soja, Spargel und Pfifferlinge. Kistenfeger gelingt das Kunststück, Altbewährtes mit Neuem zu verbinden, ohne ins Beliebige abzudriften. Wenn er selbst als Bartender gebucht wird, packt er stets fränkische Spezialitäten ein. Er ist stolz auf seine Heimat, vor einigen Jahren, er war gerade auf den Philippinen, hat er sich die Rothenburger Skyline auf den Oberarm tätowieren lassen. Als Herzschlag mit markanten Stadttürmen, dazu ein Cocktailglas.

Die Autorin ist freie Journalistin in Nürnberg.