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ANALYSE : Eine Wahl mit Besonderheiten

Schwächelnde Volksparteien, eine Höchstzahl an »Sonstigen« - und Koalitionsaussagen fehlen

20.09.2021
2023-08-30T12:39:42.7200Z
7 Min

Die 20. Bundestagswahl - die neunte gesamtdeutsche - weist eine Reihe von Neuartigkeiten auf. Dazu gehört zunächst der Verzicht der bisherigen Regierungschefin auf eine erneute Kandidatur. Angela Merkel, die Gerhard Schröder, Frank-Walter Steinmeier, Peer Steinbrück und Martin Schulz bei den Bundestagswahlen 2005 bis 2017 bezwungen hatte, scheidet ungeschlagen aus dem Amt, anders als Helmut Kohl, der nach 16 Jahren 1998 eine schmerzliche Niederlage hinnehmen musste. Dieser fehlende Kanzlerbonus macht den Ausgang besonders ungewiss. Zu weiteren Nova zählt die extrem hohe Zahl der zur Wahl stehenden Parteien, die Schwäche der Volksparteien, die in einer nicht für möglich erachteten Krise stecken; und der Verzicht der Parteien auf Koalitionsaussagen.

Die Sonstigen Bei dieser Wahl hatten 88 Parteien und politische Vereinigungen ihre Teilnahme an der Bundestagswahl angezeigt. Insgesamt neun Parteien, die seit der letzten Wahl mit mindestens fünf Abgeordneten im Bundestag oder in einem Landesparlament vertreten sind, mussten dies nicht. Das galt ebenso für den Südschleswigschen Wählerverband (SSW), der als Partei der dänischen und friesischen Minderheit von der Sammlung der Unterstützungsunterschriften freigestellt war. Der Bundeswahlausschuss ließ nach deren Nachweis zwar 54 Parteien zu, aber "bloß" 47 treten zur Bundestagswahl an, davon 40 mit Landeslisten, allerdings nicht überall. Derart viele waren es noch nie. Nordrhein-Westfalen ist das Bundesland mit den meisten Landeslisten (27), das Saarland jenes mit den wenigsten (15).

Wer mindestens 0,5 Prozent der Zweitstimmen erzielt, wird an der staatlichen Teilfinanzierung beteiligt. 2017 gelang dies den Freien Wählern (1,0 Prozent), die sich als "bürgerlich"-konservative Kraft verstehen, der "Partei" (1,0 Prozent) - der ausgeschriebene Name "Die Partei für Arbeit, Rechtsstaat, Tierschutz, Elitenförderung und basisdemokratische Initiative" weist auf den satirischen Charakter hin - und der Tierschutzpartei (0,8 Prozent). Diese gedenkt sich nicht nur um Tiere zu kümmern, sondern auch um Kranke, Behinderte und Arme. 2021 dürften mehr Parteien die Marke von 0,5 Prozent erreichen. In Frage kommen neben den genannten etwa Volt Deutschland (die Partei setzt auf ein föderatives Europa), die Ökologisch-Demokratische Partei (sie rückt Umwelt- und Familienpolitik nach vorne), die 2011/12 in vier Ländern erfolgreiche Piratenpartei Deutschland (sie propagiert Netzpolitik und will Bürgerrechte stärken) und die Basisdemokratische Partei Deutschlands: Entstanden im Zuge der Kritik an den Schutzmaßnahmen gegenüber Covid-19, plädiert sie für "Schwarmintelligenz". Die Freien Wähler, in den Landtagen von Bayern und Rheinland-Pfalz bereits vertreten, spekulieren sogar darauf, die Fünfprozenthürde zu überwinden. Hingegen scheitern die dezidiert rechts- (NPD, Der dritte Weg) und linksextremistischen Parteien (DKP, MLPD, Sozialistische Gleichheitspartei) wohl an der 0,5 Prozent-Regelung. Zu anderen relativ bekannten Kleinparteien gehören die nur im südlichen Freistaat mit einer Landesliste antretende Bayernpartei, die Grauen, die sich "für alle Generationen", so der Untertitel, einsetzen, und die von Bernd Lucke 2015 nach dem Verlassen der AfD ins Leben gerufenen Liberal-Konservativen Reformer (mit neun Landeslisten). Einige Kleinstparteien fühlen sich besonders dem Umweltschutz verpflichtet, etwa die Gartenpartei (Sachsen-Anhalt) und die Klimaliste (Baden-Württemberg).

Wer mindestens 5,0 Prozent der Zweitstimmen erhält, zieht in das Bundesparlament ein. Von dieser Klausel gibt es zwei Ausnahmen: Parteien mit mindestens drei Direktmandaten gelangen gemäß ihres Anteils in den Bundestag. Die PDS profitierte bei der Bundestagswahl 1994 davon (4,4 Prozent; vier Direktmandate). Parteien nationaler Minderheiten sind von der Hürde ganz ausgenommen. Der SSW, der bei ersten Bundestagswahl 1949 dem Parlament angehört und 1961 das letzte Mal an einer Bundestagswahl teilgenommen hatte, hofft auf ein Mandat.

Wenn 2021 derart viele Klein(st)parteien kandidieren, hat dies nicht nur mit dem corona-bedingten Absenken der erforderlichen Zahl an Unterstützungsunterschriften von Wahlberechtigten auf ein Viertel der eigentlich vorgeschriebenen Zahl zu tun (höchstens 500), sondern wohl auch mit dem Frust über die etablierten Parteien und einer gestiegenen Unbeständigkeit der Parteipräferenzen, der sogenannten Volatilität. Es könnten fast zehn Prozent auf die "Sonstigen" entfallen. Bei der Bundestagswahl 2017 betrug der Anteil 5,0 Prozent.

Erosion der Großen Die großen Parteien schwächeln, scheinen doch die Zeiten vorbei zu sein, als Union und SPD bei einer Wahlbeteiligung von mehr als 90 Prozent zugleich mehr als 90 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen konnten wie 1972 und 1976. Die Integrationsleistungen der beiden - mittlerweile ausgelaugt wirkenden und entkernten - Volksparteien sind beträchtlich gewesen, gerade vor dem Hintergrund der deutschen Erfahrungen, denn das fragmentierte und polarisierte Parteiensystem der Weimarer Republik trug nicht zur Stabilität des demokratischen Gemeinwesens bei. Es spricht vieles dafür, dass Union und SPD nicht wie 2017 an einen Anteil von zusammen 53,4 Prozent herankommen. Dies war das schlechteste Ergebnis bei einer Bundestagswahl. Eine absolute Stimmenmehrheit dürfte unterbleiben. Wenn die Meinungsumfragen nicht völlig trügen, wird die Union das erste Mal unter 30 Prozent fallen und die SPD erneut nicht über 30 Prozent steigen wie schon seit 2009.

Die Erosion der beiden Volksparteien (Durchschnittsalter der Mitglieder: 61 Jahre) ist unter anderem erkennbar am Verfehlen der absoluten Mehrheit bei der Wahl zum Europäischen Parlament 2019 mit 44,7 Prozent für Union und SPD zusammen. Bei der Landtagswahl in Thüringen 2019 erreichten sie insgesamt lediglich 29,9 Prozent (Die Linke und die AfD zusammen 54,4 Prozent), bei der in Baden-Württemberg 35,1 Prozent (Bündnis 90/Die Grünen und FDP: 43,1 Prozent). Die paradoxe Konsequenz: Ihre elektorale Schwäche führt zu einer gouvernementalen Stärke. Union und SPD gehören jeweils zehn Landesregierungen an.

Politikwissenschaftlich gesprochen: Die Fragmentierung hat, bezogen auf die elektorale Ebene, ebenso zugenommen wie die Volatilität; die Polarisierung ist mit Blick auf die parlamentarische Ebene und die Volksparteien ebenso schwächer geworden wie die Segmentierung. Dieser Begriff zielt auf den Ausschluss der Bündnisfähigkeit.

Die Ursachen der Krise sind vielfältig: Auch andere Großorganisationen wie Gewerkschaften und Kirchen verlieren im Zeichen der Säkularisierung und Individualisierung an Unterstützung und Mitgliedern. Die Zahl der Wechselwähler hat zu-, die Quote der Wahlbeteiligung abgenommen. Zu den strukturellen Gründen für den Rückgang der Stammwählerschaft gesellen sich situative. Die Volksparteien sind oft zu sehr auf ihre "Basis" fixiert. Mithin gerät aus dem Blick, dass die Wählerschaft deren Präferenzen gar nicht teilt. Und: Die großen Parteien haben sich zu sehr angeglichen. Die Union ist nicht "schwarz" genug, die SPD nicht "rot" genug. So tun sich mit der Vernachlässigung des Markenkerns Repräsentationslücken auf. Allerdings scheinen diesmal Randparteien wie AfD und Die Linke angesichts interner Zwistigkeiten von der Großen Koalition nicht zu profitieren.

Wer mit wem? Die Bundesrepublik ist eine Koalitionsdemokratie. Die letzte Einparteienregierung gab es in Bayern zwischen 2013 und 2018, obwohl die CSU "nur" 47,7 Prozent der Stimmen errungen hatte. Mittlerweile überwiegt in den Bundesländern sogar die Zahl der Dreierbündnisse. Wohl nichts verdeutlicht die Buntscheckigkeit mehr wie die zehn verschiedenen Regierungsvarianten: Schwarz-Gelb, Schwarz-Rot beziehungsweise Rot-Schwarz (dreimal), Schwarz-Grün oder Grün-Schwarz (zweimal), Schwarz-Orange [Freie Wähler], Schwarz-Grün-Rot oder Rot-Schwarz-Grün (zweimal), Schwarz-Grün-Gelb, Schwarz-Rot-Gelb, Rot-Grün, Rot-Grün-Gelb, Rot-Rot-Grün beziehungsweise Rot-Grün-Rot (dreimal). Wird zusätzlich die Größe der Parteien berücksichtigt, besteht lediglich in Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen das gleiche Koalitionsmuster: die SPD als Senior-, die CDU als Juniorpartner. Nach der Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern am kommenden Sonntag könnte es selbst damit vorbei sein.

In der Vergangenheit wusste der Wähler zumeist, wer mit wem regieren will. Das galt ohnehin bis zur deutschen Einheit unter den Bedingungen des Dreiparteiensystems mit Union, SPD und FDP in den 1960er und 1970er Jahren sowie des um die Grünen erweiterten Vierparteiensystems in den 1980ern. Und im vereinigten Deutschland setzte sich das Modell der zwei Parteilager fort. Entweder regierte Schwarz-Gelb wie nach den Wahlen von 1990 und 1994 oder Rot-Grün wie 1998 und 2002. Die PDS als fünfte Partei konnte eine solche lagerinterne Koalition nicht verhindern. Seit 2005 ist dies im Bund nun anders geworden. Mit Ausnahme des schwarz-gelben Bündnisses von 2009 bis 2013 gab es stets Große Koalitionen. Der Einzug der nicht als koalitionsfähig geltenden AfD in den Bundestag 2017 machte die Regierungsbildung zusätzlich nicht einfacher. Die Vielzahl der Parlamentsparteien begünstigt das Entstehen lagerübergreifender Koalitionen.

Heute wird erst nach der Wahl über das Regierungsbündnis entschieden. Gemäß den Umfragen kommt eine schwarz-grün-gelbe Koalition ("Jamaika") in Frage, eine rot-schwarz-grüne ("Kenia"), eine rot-grün-gelbe ("Senegal"), eine rot-schwarz-gelbe ("Deutschland") und eine rot-grün-rote. Auf der einen Seite ist die gegenseitige Bündnisfähigkeit unter demokratischen Parteien positiv, Ausdruck eines Reifeprozesses. Eine größere Flexibilität verhindert eine Blockade und "ewige" Große Koalitionen. Auf der anderen Seite jedoch wollen die Wähler wissen, welchem Bündnis ihre Stimme zugutekommt.

Im Wahlkampf 2021 weichen die Parteien einer solchen Aussage aus, etwa bei der Frage nach einem möglichen Linksbündnis. Die Anhänger der SPD und der Grünen haben ein Recht darauf, zu erfahren, ob die Parteiführungen nach der Wahl ein solches Bündnis gegebenenfalls schmieden. Ist es nicht eine Entmündigung der Wählerschaft, wenn diese vor der Wahl nicht weiß, wer mit wem zusammengeht? Eine Wahl soll schließlich ein Votum über Regieren und Opponieren der Parteien bringen.

Um das Dilemma am Beispiel der Grünen zu verdeutlichen: Wer für sie votiert, wird im Unklaren darüber gelassen, ob sie a) mit der Union und der FDP kooperieren, b) mit der SPD und der FDP oder c) mit der SPD und der Linken. Diese Unsicherheit stellt die Anhängerschaft der Grünen vor Loyalitätskonflikte. Ein linker Grüner präferiert eine ganz andere Koalition als ein konservativer. Nicht anders ist es bei der FDP: Es macht schließlich einen gewaltigen Unterschied aus, ob die Liberalen mit der Union oder mit der SPD in eine Koalition mit den Grünen gehen.

Entscheidung auf Zeit Ballot, not bullet - so lautet ein englisches Diktum, das die angemessene Art des Konfliktaustrages kennzeichnet. Wahl bedeutet Entscheidung auf Zeit. Es ist eine Paradoxie, dass die empirische Forschung dem Wähler auf die Schliche zu kommen sucht. Keiner kennt den Wahlausgang. Aber bereits jetzt spricht angesichts schwieriger und langwieriger Sondierungsgespräche wie Koalitionsverhandlungen einiges dafür, dass Angela Merkel noch am 17. Dezember 2021 Kanzlerin sein wird. Damit würde sie länger als der bisherige Rekordhalter Helmut Kohl das mächtigste Amt der Bundesrepublik Deutschland bekleiden.

Der Verfasser, von 2007 bis 2009 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft, ist Parteien- und Wahlforscher.