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coronakrise : Angst vor B.1.1.7

Forderungen nach einem konkreten Stufenplan raus aus der Pandemie werden lauter.

01.02.2021
2023-11-13T09:51:14.3600Z
4 Min

Ein Jahr nach der ersten bestätigten Infektion mit dem neuen Coronavirus in Deutschland treiben die Virus-Mutationen Experten und Politikern den Angstschweiß auf die Stirn. Aus deutscher Sicht ist vor allem die Virusvariante B.1.1.7 aus Großbritannien relevant, schon wegen der geografischen Nähe. Wie der Virologe Christian Drosten von der Berliner Charité dem "Spiegel" sagte, ist laut einer neuen Studie aus Oxford diese Mutante tatsächlich bis zu 35 Prozent infektiöser als der Wildtyp des Virus, also der nicht mutierte Keim.

Drosten hält einen exponentiellen Verlauf der Neuinfektionen weiterhin für möglich, falls es nicht gelingt, das Coronavirus über Kontaktbeschränkungen wirksam einzudämmen. Bei einem verfrühten Verzicht auf die unlängst nochmals verschärften Auflagen könnte die Lage im Frühjahr und Sommer ganz außer Kontrolle geraten, warnte der Forscher.

Klinik geschlossen Drosten rechnet immerhin nicht mit einem Ausfall der Impfstoffe durch die Mutationen, aber mit immer neuen Varianten des Virus. Inzwischen ist die britische Mutante auch in Deutschland nachgewiesen worden und hat in Berlin ein ganzes Krankenhaus lahmgelegt. Das Vivantes Humboldt-Klinikum wurde unter Quarantäne gestellt, neue Patienten konnten vorerst nicht aufgenommen werden. Das Personal wurde zur Pendel-Quarantäne verpflichtet, die Mitarbeiter durften sich nur zwischen Wohnung und Arbeitsplatz bewegen. Der Hauptgeschäftsführer der Deutschen Krankenhausgesellschaft, Georg Baum, sagte, die Schließung eines ganzen Krankenhauses müsse die Ausnahme bleiben, sonst breche die medizinische Versorgung zusammen.

Ausgerechnet in dieser kritischen Phase kommt die Massenimpfung nicht richtig in Gang, auch weil mit Biontech/Pfizer und AstraZeneca gleich zwei Hersteller von Corona-Impfstoffen wegen Produktionsproblemen verzögerte Auslieferungen angekündigt haben. Der Impfstoff des britisch-schwedischen Pharmakonzerns AstraZeneca ist vergangenen Freitag auch für die EU zugelassen worden, in Großbritannien wird er schon länger genutzt. Zwischen der Pharmafirma und der EU ist ein heftiger Streit über Vertragsinhalte und Liefermengen entbrannt. Deutschland hat sich nach Angaben der Bundesregierung 56 Millionen Impfdosen von AstraZeneca gesichert, allerdings wird der Impfstoff für Menschen über 65 Jahre zunächst nicht empfohlen, es fehlt eine ausreichende Datengrundlage. Zuletzt häuften sich unterdessen Berichte, wonach ältere Menschen, die mit Priorität geimpft werden sollen, derzeit vergeblich auf einen Impftermin warten.

Neue Perspektiven Angesichts der dramatischen Lage mit hohen Infektionszahlen, unberechenbaren Mutationen und einem verzögerten Impfprogramm wird auch im Parlament der Ton rauer. In einer aktuellen Stunde warf die Opposition der Bundesregierung vergangene Woche ein schwaches Krisenmanagement vor. Redner der Koalitionsfraktionen wiesen die Vorwürfe zurück, räumten aber ein, dass ein Stufenplan zur Überwindung der Krise sinnvoll wäre.

Auf die kritische Lage in Teilen der Wirtschaft ging Carsten Linnemann (CDU) ein. Die Industrie, das verarbeitende Gewerbe oder auch etwa die Chemiebranche komme vergleichsweise gut durch die Krise. Es gebe aber Branchen, die schwer getroffen seien, Schausteller etwa, der Einzelhandel, Messebauer, Gastronomie oder Tourismus. Hier würden Fragen nach Hilfe gestellt und vor allem nach einer Perspektive. Die Wirtschaft müsse wissen, unter welchen Bedingungen sie wieder öffnen könne, sagte der CDU-Wirtschaftsexperte. Insofern sei ein Stufenplan sinnvoll. Voraussetzung für eine Öffnung sei jedoch eine genaue Datenbasis, um die Ansteckungsorte besser und eindeutiger identifizieren zu können.

Solidarität Hilde Mattheis (SPD) hob die ungebrochene Solidarität in der Gesellschaft hervor, insbesondere die der jungen mit der älteren Generation. "Das ist ein hohes Gut." Die von Bund und Ländern veranlassten Vorkehrungen zur Eindämmung des Virus stießen auf eine hohe Akzeptanz. Mattheis forderte, diese Gemeinsamkeit beizubehalten und zugleich die Auflagen kritisch zu hinterfragen. Was die Impfkampagne betrifft, forderte sie eine verlässliche vertragliche Grundlage mit Herstellern. Auf dem sicheren Weg bis zum Ausstieg sollte den Menschen zudem die Möglichkeit gegeben werden, sich selbst zu testen.

Armin-Paul Hampel (AfD) warf der Regierung "Angstpolitik" vor. Eine vernünftige Bundesregierung müsse den Menschen Hoffnung geben und nicht Angst schüren. Tatsächlich seien in der Coronakrise 85 Prozent der Menschen nicht oder nur leicht bedroht, 15 Prozent hingegen stark gefährdet. Und genau diese 15 Prozent würden ignoriert, nämlich die alten Leute über 80 Jahre, für deren Schutz in Alten- und Pflegeheimen viel zu wenig getan werde. Das seien jene Menschen, die nach dem Krieg das Land wieder aufgebaut hätten. "Diese alten Menschen haben Sie im Stich gelassen." Hampel befand: "Die Bundesregierung hat auf der ganzen Ebene versagt." Sie solle zurücktreten.

Impfgipfel Einen besonderen Schutz für die Risikotruppen forderte auch der FDP-Abgeordnete Michael Theurer und versicherte, es gehe nicht darum, alte Menschen wegzusperren. Mit Blick auf den schleppenden Impfstart sagte er, das Impfdesaster sei für jeden erkennbar. Es müsse ein Impfgipfel einberufen werden.

Jan Korte (Linke) rügte, der Impfstart sei von viel Hoffnung begleitet gewesen, die Realität jedoch sei katastrophal. Er erinnerte daran, dass die Impfstoffe mit viel Steuergeld erforscht worden seien und merkte an: "Das hätte der Markt nicht von allein geregelt." In der Krise würden auch die sozialen Unterschiede deutlich. Die ärmeren Menschen "erkennt man daran, dass sie die billigen Masken haben".

Kordula Schulz-Asche (Grüne) mahnte, es müsse jetzt vorausschauend gehandelt werden mit Impfungen, Tests und Kontaktnachverfolgung. Sie warnte: "Wir sind an einem kritischen Punkt angekommen in der Pandemie." Die scheibchenweise vorgelegten Neuregelungen hätten die Menschen "müde und mürbe" gemacht. Umso wichtiger sei jetzt ein Stufenplan raus aus der Krise.

Für deutlich mehr Tests in der schwierigen Lage sprach sich Georg Nüßlein (CSU) aus. "Wir müssen die Tests in die Breite tragen." Benötigt würden Schnelltests und Eigentests für die Bevölkerung. Es müssten Alternativstrategien entwickelt werden. "Wir können uns nicht auf Dauer leisten, alles herunterzufahren."