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WIRTSCHAFT : Im Schatten der Krise

Die meisten Unternehmen leiden unter dem Lockdown - doch manche kennen nur Wachstum

01.02.2021
2023-11-13T09:51:14.3600Z
6 Min

Der Weg zum Aufbruch der deutschen Wirtschaft führt entlang einer Straße aus dickem Pflaster. Zweistöckige Arbeiterreihenhäuser mit grauem Putz ducken sich vorm Industriegelände, hier in Berlin-Reinickendorf. Eine verblasste Frakturschrift auf der Ziegelsteinhauswand erzählt von Zeiten, in denen im Quartier ein Industrieherz schlug. Heute aber verliert sich der Besucher einsam in der Zone, ein Hinweisschild verweist auf "Brewbox", eine Brauerei für Kaffee und Bier in Dosen, und auf einen "Anti-Drogen-Verein". Eine unscheinbare Hallentür öffnet sich. Aus ihr dringt Maschinenlärm, stanzendes Stakkato einer Boom-Branche in Zeiten der Pandemie: Die Produktion von FFP2-Masken, "Made in Germany".

Erst seit vergangenem November werden die Endlosfasergewebe aus geschmolzenem Kunststoff hier zu Hochleistungsmasken verarbeitet. "Wir gingen ins Risiko", sagt Unternehmer Robert Erdinç, 42, von der Firma "Your Mask". Er und seine zwei Brüder, alle drei branchenfremd, finanzierten den Aufbau der Maschinen komplett über Kredite. "Wir wussten, dass sich die Pandemie so entwickeln wird." Einer der Brüder habe ausgerechnet, wie viele Menschen sich normalerweise mit Grippe anstecken. "Da war klar, wohin die Reise geht." Der Hallenraum ist in helles Weiß getaucht, die Berliner übernahmen ihn von einem Automobilzulieferer, der sich verkleinerte. 30 Angestellte eilen zwischen drei Maschinen hin und her, die vierte ist bereits bestellt; derzeit werden 110.000 bis 120.000 Masken am Tag hergestellt. "Hätten wir hier 50 Maschinen, würden die alle laufen", sagt Erdinç, "so viele Bestellungen kommen rein." Wo andere im Lockdown unverrichteter Dinge ausharren, haben die Brüder Erdinç verrückte Monate hinter sich, eine Erfolgsstory. Und selten mehr als fünf bis sechs Stunden Schlaf in der Nacht.

Sinkende Umsätze Die Maßnahmen wegen der Corona-Pandemie haben die Wirtschaft unterschiedlich hart getroffen. Der von sozialen Kontakten geprägte Dienstleistungssektor wird arg gebeutelt, während sich die Industrie robust zeigt und bereits wieder anzieht. Deutschlands Unternehmen bezahlen die Kosten der Pandemie mit insgesamt gesunkenen Umsätzen. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) schätzt sie für das Jahr 2020 auf rund 212 Milliarden Euro; bis zum Ende der Krise könnte sich diese Summe nach Institutsschätzung auf 391 Milliarden Euro erhöhen. Vor allem Exporte erweisen sich gerade als Zugpferd. Das Statistische Bundesamt ermittelte für den vergangenen November ein Wachstum um 2,2 Prozent im Vergleich zum Vormonat. "Vor allem die Exporte nach China boomen", sagte Thomas Gitzel, Chefvolkswirt der VP Bank, gegenüber der "Tagesschau". Die Nachfrage nach deutschen Autos steige dort, während auch Maschinenbauer mit ihren Produkten gefragt seien. "Einmal mehr zeigt sich: Geht es China gut, profitiert Deutschland."

Die Brüder Erdinç produzieren hauptsächlich für den deutschen Markt, erhalten aber bereits Anfragen aus dem Ausland. Robert Erdinç ist eigentlich Händler für Edelmetall, sein einer Bruder Goldschmied und der andere Immobilienmakler. Ist das die perfekte Voraussetzung für einen Senkrechtstart in der Industrie? "Man kann sich ja reinlesen", lächelt Erdinç. Im vergangenen März habe er per WhatsApp ein Angebot zum Kauf von 300.000 Masken erhalten, zeitgleich fragte jemand seinen Bruder nach Masken. "So wurden wir auf das Thema aufmerksam."

Lange suchten sie nach einem passenden Maschinenbauer, "wir fanden ihn dann vor unserer Haustür", die Firma Jonas & Redmann aus Treptow-Köpenick. Vier Rollen des Feingewebes zieht sich die eigens konstruierte Maschine heran, schiebt zunächst den Nasenbügel ein. Dann stanzt sie die Maskenform aus dem Stoff. Ein paar Zentimeter danach kommt ein Aufdruck, danach werden Ohrenbügel angebracht, während ein Scanner die Symmetrie der Produkte prüft. Endlich werden die Masken rausgeschnitten, noch einmal gescannt - nun fallen sie in einen Karton, das ist der ganze Prozess entlang von zehn Metern. Angestellte tragen sie zu einer zweiten Maschine, wo die Masken einzeln verpackt werden; nur am Ende, zum Abpacken in die Endkartons greift wieder Menschenhand ein. Die rasant wachsende Firma entwickelt mit Jonas & Redmann die Maschinen systematisch weiter. "Nur über Automatisierung können wir preislich mit Asien mithalten."

Staatshilfen Für ihre Unternehmung haben die Erdinç keine Förderung in Anspruch genommen. Aber der Staat hat tief in die Tasche gegriffen, um die pandemiebedingten Einschränkungen abzufedern. Für 2021 schätzt das Bundesfinanzministerium 74 Milliarden Euro Mehrausgaben für den Bund, 27,3 Milliarden Euro bei den Ländern und Kommunen sowie 2,8 Milliarden Euro bei den Sozialversicherungen. Die Hilfspakete werden von Bürgschaften flankiert, von denen der Bund 765,5 Milliarden Euro übernimmt und die Länder 69,8 Milliarden Euro. Insgesamt stehen so 1,455 Billionen Euro bereit - rund 42 Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukts vom Jahr 2019.

Ökonomen prognostizieren für die Dienstleistungsbranche eine Aufholjagd, sobald alle Einschränkungen fallen. Das heißt: Der Aufschwung auf dem Arbeitsmarkt, der kurz vor dem zweiten Lockdown begann und dann in eine verschärfte Winterpause geriet, wird erst irgendwann in diesem Jahr wieder an Fahrt gewinnen. Einzelne Branchen dagegen zeigen sich unbeeindruckt: Textilwirtschaft und Möbelhersteller melden erste positive Zahlen, und das Baugewerbe sowie das Handwerk leiden ohnehin unter Fachkräftemangel.

Für viele Unternehmer heißt es aber nur noch Durchhalten. Vor allem die Gastronomie hat eine lange Durststrecke hinter sich - und eine ungewisse Zukunft vor sich. In Berlin liegt die Oranienburger Straße, ansonsten ein Hotspot sich verlustierender Berliner und Touristen samt Bars, Kneipen und Restaurants, an diesem Freitagabend dunkel da, als habe ein einziger Vorhang sie zugezogen. Allein ein Licht funkelt, trotzt aus einem Laden heraus; lediglich die zwischen Tischen abgestellte Vespa erinnert daran, dass keine Gäste erwartet werden. Doch im Restaurant "Vino e Basilico" steht ein Koch vor Pfannen und rührt ein Kalbsragout in die fertigen Paccheri-Nudeln. Den Besucher begrüßen in L-Form aufgestellte Weinflaschen auf zusammengeschobenen Tischen. "Im März, als wir alle schlossen, kam es mir vor wie in einem schlechten Film", erinnert sich Küchenchef Loriano Mura. Im September 2016 hatten er und Manager Francesco Comi eröffnet - beide hatten vorher gemeinsam jahrelang im "Bocca di Bacco" gearbeitet, einem Edelrestaurant der Hauptstadt. "Wir wollten etwas Eigenes aufziehen, das mehr zu unserer Persönlichkeit passt, das familiärer ist." Erfolg stellte sich rasch ein, Stammkundschaft bildete sich. Doch dann kamen die Lockdowns Nummer Eins und Zwei. Die Stammkunden blieben. Holen ihr bestelltes Essen selbst ab - oder lassen es sich über einen Lieferdienst bringen. 40 bis 60 Gerichte am Tag, "mit dem Take Away finanzieren wir den Wareneinsatz", sagt Comi und setzt sich an einen Tisch.

Die Staatshilfen für November und Dezember finden sie großzügig, es handelt sich um 75 Prozent der Umsätze aus dem Vergleichszeitraum des Vorjahres, nur warten sie noch auf den Zahlungseingang. "Ich habe heute zehnmal nachgeschaut, ob das Geld da ist", sagt Comi. Er schweigt für einen Moment. "Wir fühlen uns nicht allein, es ist aber die schwierigste Zeit meines Lebens." Die Miete wird ihnen derzeit gestundet. Da ist der Staat, aber da sind auch die Leute, die reinkommen, wenn auch nur kurz. "Es ist eine starke Verbindung", sagt Mura. "Wir brauchen den Kontakt." Man versteht, dass er es nicht nur materiell meint.

Kurzarbeit Im Lockdown machen die beiden einfach weiter. Sind jeden Tag im Lokal, "wir arbeiten jetzt mit 20 bis 30 Prozent des eigentlichen Personals - der Rest ist in Kurzarbeit". Und dann planen sie etwas Verrücktes. In dieser Zeit, in der Läden schließen, wollen sie einen zweiten öffnen, eine Weinbar in der Nähe. "Die Idee war immer da", sagt Mura. "Wir warteten nur auf die richtige Location." Und so wird gerade gebaut, "nächste Woche soll die Bar fertig eingerichtet sein, das gibt uns innere Kraft, nach vorn zu schauen."

In der Küche wartet ein Blech voller Schoko-Crumbles für Desserts auf ihren Einsatz. Koch Gian Luca Calogero hat die Paccheri längst verpackt und von einem Fahrradkurier abholen lassen, nun rührt er ein wenig untätig in der Gemüsebrühe fürs Risotto. Nicht viel los heute. Da klingelt es sanft von einem auf der Theke aufgestellten Tablet - eine Bestellung trudelt rein, Mura und Comi springen beide auf, dann noch ein Klingelton und noch einer. Vorbei für einen Moment die Sorgen, die Gedanken nun fixiert auf das, was gerade gemacht werden muss: Trüffel reiben für die Tagliatelle und Speck anbraten, für die Orecchiette mit Radicchio-Salat. "Zwei Minuten", ruft Calogero Mura zu, der die Transportschachteln vorbereitet. In der aufkommenden Hektik liegt eine gewaltige Ruhe.