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Afghanistan-Untersuchungsausschuss : Zeugin berichtet von Listen-Chaos bei Evakuierung der Ortskräfte

Mit Listen wollte die Bundesregierung im Frühjahr 2021 die Ausreise von Ortskräften aus Afghanistan organisieren. Zeugen zufolge ist dabei einiges schiefgegangen.

30.09.2023
2024-01-30T11:53:12.3600Z
3 Min

Panik hat viele Deutsche erfasst, als die Taliban am 15. August 2021 in Kabul einmarschierten. Bundeswehrsoldaten, Journalisten oder Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen (NGO) hatten in Afghanistan mit Menschen zusammengearbeitet, für deren Schicksal sie sich nun verantwortlich fühlten. Wer dann nach offizieller Hilfe suchte, stieß auf ein Wort: Die Liste!

Afghanische Ortskräfte mussten auf diese Liste gesetzt werden, wenn sie nach dem geltenden Ortskräfteverfahren nach Deutschland ausreisen wollten - viele hatten nach der Machtübernahme der Taliban Angst um ihr Leben. Nur, wo war diese Liste? Und wer hat sie erstellt? Telefonnummern und E-Mail-Adressen kursierten, die die Ortskräfte kontaktieren sollten, manchmal stimmten sie, oft nicht. Man hörte nur in seltensten Fällen, was mit den eingelieferten Informationen passierte. Die Liste schluckte jede Information wie ein schwarzes Loch.

Zeugin: Refererat im Auswärtigen Amt war unterbesetzt

Sie hätten damals einen Kraftakt vollbracht, berichtete am Donnerstag im 1. Untersuchungsausschuss Afghanistan die Leiterin des für humanitäre Angelegenheiten verantwortlichen Referats im Auswärtigen Amt. Sowohl ihr eigenes, als auch andere zuständige Referate, seien unterbesetzt gewesen. Ihr zufolge hat es drei Listen gegeben: eine für Ortskräfte, eine für humanitäre Zwecke und ein Sammelpostfach. Während die Ortskräfteliste von den zuständigen Ministerien geführt worden sei, sei ihr Referat für die humanitäre Liste verantwortlich gewesen, auf der Journalisten, Wissenschaftler oder Menschenrechtsaktivisten gestanden hätten. Im Sammelpostfach seien alle Anfragen verschiedener NGOs oder Einzelpersonen zusammengelaufen.

Im Eilverfahren hätten die Anfragen nach Berufen kategorisiert, im zuständigen Fachreferat des AA nach Plausibilität geprüft und die Namen schließlich wieder in einer Liste zusammengefasst und täglich zur endgültigen Zusage an das Bundesinnenministerium (BMI) geschickt werden müssen. Dass mancher Name aus verschiedenen Kanälen mehrfach übermittelt worden sei und die Qualität der Informationen stark geschwankt habe, habe die Arbeit erheblich erschwert, sagte die Beamtin.

Was macht der 1. Untersuchungsausschuss Afghanistan?

Der 1. Untersuchungsausschuss wurde vom Deutschen Bundestag am 8. Juli 2022 eingesetzt. Unter dem Vorsitz von Ralf Stegner (SPD) befasst er sich mit den Geschehnissen im Zusammenhang mit dem Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan und der Evakuierung des deutschen Personals, der Ortskräfte und anderer betroffener Personen. Der Untersuchungszeitraum beginnt mit dem 29. Februar 2020 – dem Abschluss des sogenannten Doha-Abkommens zwischen der US-Regierung unter Ex-Präsident Donald Trump und Vertretern der Taliban. Er endet mit der militärischen Evakuierung aus Afghanistan am 30. September 2021.



Für eine Zusage seien mit dem BMI verschiedene Kriterien vereinbart worden, berichtete die Zeugin. Es hätten nur diejenigen Personen und ihre Kernfamilien eine Ausreisezusage bekommen, die nachweisen konnten, für eine deutsche Institution, ein von Deutschland unterstütztes Projekt oder für deutsche Medien gearbeitet zu haben. "Und einige Personen, an denen ein außenpolitisches Interesse bestand", fügte die Zeugin hinzu.

BND-Abteilung sah Rückkehr der Taliban als wahrscheinlichstes Szenario an

Der Ausschuss beschäftigte sich in der Sitzung außerdem mit dem ominösen Begriff "Emirat 2.0". Hintergrund ist eine Prognose des Bundesnachrichtendienstes (BND) aus dem Jahr 2020, die eine Rückkehr der Taliban als wahrscheinlichstes Szenario für Afghanistan annahm. Der damalige Leiter des BND-Regionalreferats erklärte dazu im Zeugenstand, dass Prognosen normalerweise nicht zum Auftrag gehörten. Doch während der Corona-Pandemie hätten einige Mitarbeiter einen "neuen Werkzeugkasten ausprobiert". Herausgekommen sei die Prognose, die sie "Emirat 2.0" genannt hätten. Als das Ergebnis beim Bundeskanzleramt vorgestellt worden sei, sei es auf Interesse gestoßen, berichtete der heute pensionierte Beamte. Seitdem werde die neue Methode weiterbearbeitet.