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Staudamm-Katastrophe in der Ukraine : Das große Aufräumen nach der Flut

Nach der Zerstörung des Kachowka-Staudamms wird im Süden der Ukraine das Wasser knapp. Ampelfraktionen und Union sprechen von einem Kriegsverbrechen.

19.06.2023
2024-02-23T12:14:50.3600Z
4 Min

Gut zwei Wochen nach der Zerstörung des Kachowka-Staudamms am Morgen des 6. Juni werden im Süden der Ukraine die langfristigen Folgen der Katastrophe mit jedem Tag deutlicher. Unterhalb der zerstörten Staumauer nahe der Stadt Nowa Kachowka begann das Wasser wenige Tage nach dem Beginn der Überflutung abzufließen - nun fängt für die Menschen das große Aufräumen an. Mindestens 27 Personen sind in den Dörfern und Städten links und rechts des Dnipro ums Leben gekommen, hinzu kommen zehntausende Haus- und Wildtiere.

Kachowka-Meer genannt: Bodensee passt viermal in den Stausee

Mehr und mehr geraten die Gebiete in den Blick, die flussaufwärts gelegen sind: Sie waren von der Überschwemmung nicht betroffen, ihre Existenz ist jedoch eng verbunden mit dem Kachowka-Stausee. Das Wasser-Reservoir bezeichneten die Menschen in der Region als "Kachowka-Meer": Der Bodensee passt viermal in den Stausee, der 230 Kilometer lang und an seiner breitesten Stelle 24 Kilometer breit ist. Inzwischen ist er jedoch zu drei Vierteln leergelaufen, Tendenz weiter fallend.

Foto: picture alliance / AA | Ercin Erturk

Die Flut hat Häuser und Straßen in der ukrainischen Stadt Cherson überschwemmt.

Das bringt riesige Probleme für die Wasserversorgung des ukrainischen Südens mit sich. Denn als die Sowjets den Dnipro ab 1955 stauten, ging es dabei nur am Rande um die Stromerzeugung: Vor allem sollte der Stausee als Reservoir für Trinkwasser fungieren - um in der sonnenreichen, aber niederschlagsarmen Region eine zuverlässige Quelle für die künstliche Bewässerung der Landwirtschaft sein. Kanäle zur Krim und in die Industriestadt Kriwij Rih, aber auch ein weit verzweigtes System kleinerer Bewässerungskanäle, verdeutlichen die überregionale Bedeutung des Sees.

Inzwischen hat die Stadtverwaltung der 600.000-Einwohner-Stadt Krywyj Rih Beschränkungen für den Wasserverbrauch erlassen. Man verfüge noch über Reserven für anderthalb Monate, erklärte der Gouverneur. In Nikopol und anderen Städten, die zuvor direkt am Ufer des Stausees lagen, ist die Situation noch dramatischer: Dort wird Trinkwasser inzwischen aus Tankwagen an die Bevölkerung ausgegeben.

Die Brunnen trocknen aus

Ihor Josipenko, Abgeordneter des Regionalparlaments in Cherson, dokumentiert in den sozialen Netzwerken den Rückgang des Stausees und die Folgen: Seine Bilder zeigen die absterbende Vegetation am ehemaligen Ufer des Stausees, verwesenden Fischlaich, Muscheln und andere Krebse. Die meisten Fische konnten zwar mit dem fallenden Wasser mitziehen, "langsamere" Tiere blieben jedoch zurück.

Durch das Ablaufen des Stausees fällt auch der Grundwasserspiegel, in den umliegenden Dörfern trocknen deshalb die Brunnen aus, aus denen die Menschen Trinkwasser und Wasser für ihr Vieh und die Kleingärten zur Selbstversorgung pumpten. Das stellt die Lebensgrundlage der Menschen in Frage, die dazu durch die direkte Front-Lage der Region unter russischem Beschuss zu leiden haben.

Reparatur der Staumauer wird dauern

Zwar geht die ukrainische Seite davon aus, dass nach der Befreiung des linken Dnipro-Ufers die Staumauer repariert und der Stausee wieder gefüllt werden kann. Aber wann das der Fall sein wird, ist völlig unklar. Bis dahin kann den Bewohnern des Gebiets nur durch das Bohren tieferer Brunnen geholfen werden.


„Dieses Wasser ohne Sauerstoff wird tot sein und ungeeignet für die Wasserversorgung.“
Wolodymyr Osadtschyj, Direktor des Hydrometeorologischen Instituts der Ukraine

Auch für die Landwirtschaft, der wichtigste Wirtschaftszweig der Region, hat der Wassermangel massive Folgen: Landwirtschaftliche Kulturen, die künstliche Bewässerung benötigen, werden in den an den Stausee angrenzenden Regionen nicht mehr angebaut werden können. Wolodymyr Osadtschyj, Direktor des Hydrometeorologischen Instituts der Ukraine, warnt vor den Folgen, die ein weiteres Absinken des Wasserpegels haben könnte: "Wenn ein Pegel von drei Metern bleibt, wird das Wasser sich stark aufheizen. Bei hohen Temperaturen sinkt der Sauerstoffgehalt. Dieses Wasser ohne Sauerstoff wird tot sein und ungeeignet für die Wasserversorgung", sagte er im Gespräch mit der Deutschen Welle.

Militärischer Nutzen durch Verschwinden des Sees?

Allein militärisch könnte das Ablaufen des Stausees für die Ukraine von Nutzen sein: Denn durch sein Verschwinden des Sees reduziert sich eine 230 Kilometer lange, natürliche Barriere. Allerdings wird es Monate, wenn nicht Jahre dauern, bis der schlammige Seegrund ausgetrocknet und befahrbar wird.

Unterhalb der Staumauer hatten die Ukrainer schon vor der Zerstörung des Staudamms wiederholt versucht, mit Schlauchbooten an das russische besetzte linke Dnipro-Ufer zu gelangen. Dort hat das Hochwasser schwerere Schäden verursacht als am rechten Flussufer - und die Russen gezwungen, ihre Positionen zu verlassen.

Thema in Aktueller Stunde des Bundestages

Die Katastrophe war für SPD, Grüne und FDP vergangene Woche Anlass, das Thema auf die Tagesordnung des Bundestages zu heben. In einer Aktuellen Stunde verurteilten sie die Zerstörung des Staudamms als Kriegsverbrechen und machten Russland dafür verantwortlich. Auch wenn es keine gerichtsfesten Beweise gebe, sei es mit Abstand das wahrscheinlichste Szenario, dass es den Staudamm bewusst gesprengt habe, urteilte Robin Wagener (Grüne). Dies sei ein bewusster Anschlag auf die Lebensgrundlagen der Menschen und auf die Natur, "ein Ökozid". Auch Nils Schmid (SPD) sprach von einem Ökozid und schlug vor, ihn als Straftatbestand in Kriegszeiten in das Völkerstrafrecht aufzunehmen. Bisher sei es nicht möglich, einen Ökozid als Kriegsverbrechen zu verfolgen.

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Eugen Schmidt (AfD) warf den Fraktionen vor, Russland vorzuverurteilen, obwohl die Hintergründe des Staudammbruchs unklar seien. Er könnte zum Beispiel auch Spätfolge eines ukrainischen Raketenbeschusses auf eine nahegelegene Straße sein. Ulrich Lechte (FDP) verwies daraufhin auf Erkenntnisse von Seismologen, denen zufolge es zum Zeitpunkt des Dammbruchs eine Explosion gegeben habe. Wer sie ausgelöst habe, werde noch untersucht, aber "die Ukrainer werden ihre Lebensgrundlage vermutlich nicht selbst zerstört haben".

Linke kritisieren Waffenlieferungen an Ukraine

Bernd Riexinger (Linke) nannte die ukrainische Bevölkerung Leidtragende eines "Abnutzungskrieges". Statt weiter Waffen zu liefern, sei ein Waffenstillstand, ein Rückzug der russischen Truppen und Friedensverhandlungen nötig. Johann Wadephul (CDU), dessen Fraktion auch einen Antrag zum Wiederaufbau der Ukraine vorgelegt hat, betonte indes: "Wir müssen das Land so schnell und so kräftig unterstützen, dass es diesen Krieg gewinnen kann." Nur so könnten solche Verbrechen verhindert werden.

Moritz Gathmann arbeitet als freier Journalist in Berlin.